Aber um Kafka kommen Sie nicht herum!“, schrieb mir eine Leserin, nachdem ich hier über die Flut der Gedenktage (Kant, Kafka, Klopstock, Beethoven) geschrieben hatte. „Ich bin gespannt, was Sie über den Weltliteraten Franz Kafka zu sagen haben!“
„Wahrscheinlich nichts Weltbedeutendes“, dachte ich, ich habe nämlich so eine Art Kafka-Komplex. Kafka hatte offensichtlich einen Vater-Komplex, ich habe einen Kafka-Komplex.
Früher – ich war so ungefähr 15 – fuhr ich oft mit dem Fahrrad zu meinem besten Freund, Martin wohnte im Rilkeweg 4. (Komisch, dass man sich das merkt, ich weiß noch heute alle Haus- und Telefonnummern meiner Jugendfreunde auswendig). Ich will aber nicht ablenken von Kafka, also: Ich fuhr in den Rilkeweg, um Martin zum Tennis abzuholen, in den Ferien standen wir jeden Morgen auf dem Platz, ich mit doppelter Rückhand, er spielte sie wie Ivan Lendl, wobei ich eher der Henri-Leconte-Typ war.
Kafka! Also: Irgendwann sagte Martin: „Heute kein Tennis, wir gehen spazieren.“ Plötzlich, während des Spaziergangs durch den Schluh, vorbei an den Birken, erklärte Martin, dass er gerade Franz Kafka lese und zwar dessen Erzählung „Der plötzliche Spaziergang“. „Oh, die kenne ich noch gar nicht“, sagte ich, ich traute mich nicht zu sagen, dass eigentlich nicht mal Kafka kannte beziehungsweise keine einzige Zeile von ihm gelesen hatte.
In der „Der plötzliche Spaziergang“ passiert Folgendes, erklärte Martin. Der Erzähler beschließe in der „Man“-Perspektive am Abend zu Hause zu bleiben und habe schon den Nachtrock angezogen, auch wegen des schlechten Wetters. Doch plötzlich fasse man zur Überraschung der Familie und aus plötzlichen Unbehagen den Entschluss, doch noch rauszugehen, den Nachtrock wieder auszuziehen, um dann straßenmäßig angezogen die Freiheit der Gasse zu genießen. Hernach erhebe man sich fern der Familie zu wahrer Gestalt und besuche vielleicht noch einen Freund, um zu schauen, wie es ihm gehe. Danach schaute mich Martin an und sagte: „Genial! Und das alles in einem neun-stufigen Konditionalsatz, gefolgt von einer Inversion.“ Ich weiß nicht mehr, was ich daraufhin sagte, aber ich weiß noch, dass ich nicht einmal wusste, was eine „Inversion“ oder ein „neunstufiger Konditionalsatz“ sein soll.
Beim nächsten Spaziergang fing Martin wieder mit Kafka an. Dass wir uns von unseren Familien lösen müssten; dass wir uns überhaupt aus den schwerfälligen konditionalen „Wenn-Dann-Wunschvorstellungen unseres Lebens“ befreien und, fern der Familie, endlich zur Tat schreiten müssten.
Ich war völlig verunsichert. Wir hatten doch eigentlich ein schönes Leben. Wir spielten Tennis, ich ging auf die harmonische Waldorfschule, wusste vielleicht deshalb nicht, was eine Inversion war (weil man in dieser Schule Gott sei Dank auf andere Dinge Wert legte). Und ich mochte meine Eltern und wollte nicht fern von ihnen sein. Kurz: Ich war nicht bereit, zur Tat schreiten.
Martin meldete sich beim THW an, beim Katastrophenschutz, und verliebte sich intensiv in Renée, ebenfalls aus dem Rilkeweg. Tennis spielten wir kaum noch miteinander, und ich bin überzeugt, dass uns seine Kafka-Lektüre auseinandergebracht hat.
Im Studium lernte ich Gesine kennen, ich studierte Theater, sie Mathematik. Beim ersten Rendezvous erzählte ich ihr von meinen schriftstellerischen Ambitionen; dass ich Max Frisch verehrte und Rilke, aber sie sprach sofort von Kafka. Wenn ich Schriftsteller werden wolle, erklärte sie, dann müsste ich erst einmal wie Kafka einen in Maschinenfassung 45-seitigen „Brief an den Vater“ schreiben und die Voraussetzung wäre natürlich, dass das Verhältnis zu meinem Vater ähnlich zerrüttet sei wie das von Kafka zu seinem Vater.
Wie gesagt, ich liebte meinen Vater. Ich hatte schon, bevor ich Gesine kennenlernte, mehrere Hymen auf ihn bei Geburtstagen vorgetragen, vermutlich konnte ich nun überhaupt kein richtiger Schriftsteller mehr werden, ohne zerrüttetes Vater-Verhältnis, ohne jemals, wie Martin sagte, zur Tat geschritten und mindestens dem Katastrophenschutz beigetreten zu sein. Was mich viele Jahre später komplett aus der Fassung brachte, war dann noch die Tatsache, dass Kafka gerne Tennis spielte.