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Rinkes Rauten Nachruf auf meinen Vater Hadfried Rinke

Der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke schaut in "Rinkes Rauten" jeden Sonntag im WESER-KURIER auf die Welt. Thema muss nicht immer der SV Werder sein.
15.06.2024, 13:30 Uhr
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Von Moritz Rinke

Die Wiese mit seinen geliebten Pferden lag immer vor ihm, wenn er hinter der Werkbank seiner Goldschmiede saß und aus dem Fenster sah. Immer saß er dort auf seinem Hocker und arbeitete. Das alte Bauernhaus mit den Kuhställen und weitläufigen Wiesen am Rande der Worpsweder Künstlerkolonie hatte er der Mutter seiner ersten Frau abgekauft, es ausgebaut, mit Stroh bedeckt und in ein wundervolles Haus verwandelt, mit großer Diele, Kinderzimmern, Pferdeställen und eben seiner Goldschmiede.

Und hier sitze ich nun, an seiner Werkbank, im Juni, kurz nach seinem Tod und versuche, einen Text zu schreiben, den ich eigentlich nicht schreiben kann. Welche Worte soll ich denn für den Tod des Vaters finden?

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Ich taste mit Blicken seine Werkbank ab, es steht noch alles so da wie immer: rechts das Gold- und Silberlot, das stählern-glänzende Bretteisen und der Lötbrenner; links die Pinzetten und Feilen in der uralten Faber-Castell-Box, daneben der Pinsel für den Goldstaub, den er immer ins Fell strich, das auf seinen Knien lag.

Tagsüber habe ich den Worpsweder Friedhof auf der Suche nach einer schönen Grabstelle abgeschritten, mit Redakteuren telefoniert, Fotos von meinem Vater rausgesucht, die Ehrungen aufgelistet: die Staatspreise, die internationalen Preise und die Teilnahmen an den vielen Weltausstellungen, für die er den deutschen Pavillon gestaltet hatte.

Ich schaue auf seinen Entwurf für eine der weltweit bedeutendsten Auszeichnungen in der Bildenden Kunst, den Goslarer Kaiserring: ein goldgefasster Aquamarin, in den das Siegel Kaiser Heinrich IV. eingraviert ist. Wie oft habe ich als Kind zugesehen, wenn mein Vater an dieser Werkbank gearbeitet und modelliert hat. Wenn seine Fingerkuppen über das blaue Wachs strichen und die Form entstand; wenn er sie im Licht der Lampe betrachtete – und ich im Wachs sogar seine Fingerabdrücke erkannte. Um dann, am Totenbett, ein großes, langes Leben später, auf diese Hände zu sehen, die all das erschaffen hatten: die Formen, die Linien, das Zusammenspiel von Fläche und Edelstein, das mir schon früh eine Ahnung von Harmonie und Ästhetik vermittelte. Diese Hände, die das Haus erschaffen hatten, in dem ich geboren wurde. Die mich als Kind trugen, an denen ich mich festhielt, wenn ich Geborgenheit suchte.

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Wie kann man es aushalten, nun auf diese Hände zu schauen?

Ich habe mich in die Biografie meines Vaters schon als Kind verliebt, sie klingt wie ein Märchen. Er liegt mit dreizehn Jahren in Göttingen krank im Bett und liest die von Goethe übersetzte Lebensgeschichte von Benvenuto Cellini, dem florentinischen Goldschmied und Schüler von Michelangelo. Cellini war der Held meines Vaters, denn Cellini arbeitete zwar für den Papst, aber wenn er fand, dass der Papst zu reich geworden war, brach er in den Vatikan ein, stahl seinen Schmuck zurück und verkaufte ihn in veränderter Form wieder an den Papst, der es gar nicht merkte. Danach verteilte Cellini das Geld an die Armen.

So einer wollte mein Vater auch werden. Cellini wurde jüngster Meister der Renaissance, mein Vater 1953 jüngster Goldschmiedemeister in Deutschland, da war er zwanzig Jahre alt. Es gibt Fotos von ihm aus dieser Zeit, ich verschicke sie manchmal an Frauen, damit sie sich im Nachhinein in meinen Vater verlieben. Er war ja – in meinen Augen – ein so schöner, leuchtender Mann.

Meine erste Kolumne handelte vom Zeitungskasten meines Vaters. Meine ganze Kindheit über lief ich zu diesem Kasten neben der Birke und brachte ihm den „Weser-Kurier“ ins Haus. Am vergangenen Dienstag nahm ich die Zeitung aus dem Kasten, ich wollte sie meinem Vater zum letzten Mal auf seinen Platz am großen Dielentisch legen – die Zeitung mit dem Nachruf auf ihn. Aber der Regionalteil war wegen eines „technischen Defekts im Druckhaus“, wie es hieß, nicht erschienen. So etwas hatten die Rinkes in Worpswede bisher noch nicht erlebt. Es war, als wäre mein Vater – gleichsam wie Cellini – ins Druckhaus eingebrochen und hätte den Lauf der Welt angehalten und seinen Nachruf verhindert.

Nun liegt es also an mir, den Nachruf in seinem „Weser-Kurier“ zu schreiben. Mein geliebter Vater ist am Sonntagmorgen, dem 09. Juni, mit 91 Jahren in seinem Haus in Worpswede gestorben.

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