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Kurz vor Kriegsende Varrelerin wurde 1945 im Bunker geboren: Sie nannten sie Friedensengel

Renate Hartwig aus Varrel kam kurz vor Kriegsende in einem Bunker in Oslebshausen zur Welt. Die Nachbarn nannten sie „Friedensengel“.
08.05.2020, 08:17 Uhr
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Varrelerin wurde 1945 im Bunker geboren: Sie nannten sie Friedensengel
Von Alexandra Penth

An einem Mittwoch ist Renate Hartwig geboren, es war ein warmer Nachmittag an einem dunklen Ort. Als ihre Großmutter aber mit ihr im Kinderwagen aus dem Bunker an der Togostraße in Oslebshausen stieg, klatschten die Nachbarn auf den Treppenstufen vor ihren Reihenhäusern. „Da kommt der Friedensengel“, hörte Renate Hartwigs Großmutter jemanden von ihnen sagen. Hartwig ist am 25. April 1945 in einem Sanitätsraum im Bunker geboren. Eine Hebamme half ihr auf die Welt.

Die Zivilbevölkerung hatte Schutz vor den Artilleriegranaten und Luftangriffen in den Bunkern gesucht. Es gab keinen Strom in Bremen, weil das Kraftwerk in Hastedt am 22. April durch einen Luftangriff zerstört worden war. In den Morgenstunden des 25. April, wenige Stunden bevor Renate Hartwig das Licht der Welt erblickte, waren britische Truppen vorgerückt. Nach einem letzten Widerstand am Tag darauf im Bürgerpark war der Kampf um Bremen am Morgen des 27. April vorbei.

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Renate Hartwig wurde von den Nachbarn als Kind des Friedens gefeiert. Die heutige Varrelerin wuchs bei den Großeltern an der Kamerunstraße auf. „Hier war unser Haus“, sagt sie und zeigt etwa mittig der imaginären Linie, die sie auf dem Couchtisch vor sich zeichnet. Links davon lag der graue Bunker. Renate Hartwig sah ihn jedes Mal, wenn sie aus der Haustür trat, damals war es das höchste Gebäude weit und breit. „Dieses grässliche Ding“, sagt sie. Der Zweckbau-Charme hatte sie schon als Kind erschaudern lassen, als sie um die genauen Umstände ihrer Geburt noch nicht wusste.

Ihr Großvater war Mitglied der SPD und hatte als solches unter dem Nazi-Regime ein Berufsverbot als Kassierer bei einer Gewerkschaft auferlegt bekommen. Der sozialdemokratische Gedanke habe auf sie abgefärbt. Als ihr Großvater starb, war Renate Hartwig zwölf Jahre alt. Anschließend zog sie zu ihrer Mutter, die neu geheiratet und eine Neubauwohnung per Dringlichkeitsschein samt Kinderzimmer erhalten hatte. Politisch interessiert nach dem Vorbild ihres Großvaters war Hartwig immer, doch erst 1974 trat sie in die SPD ein, da war sie gerade nach Stuhr gezogen.

In den öffentlichen Dienst

Auch ihr Berufswunsch war geprägt von dem, was ihr Großvater ihr einst mit auf den Weg gegeben hatte. „Ich habe von ihm den Impuls bekommen: Du musst in den öffentlichen Dienst.“ 1963 begann Hartwig ihre Verwaltungslehre bei der Freien Hansestadt Bremen. Fünf Jahre dauerte die Ausbildung, zwei Jahre für die Laufbahn im mittleren Dienst, daran schloss sich die Ausbildung für den gehobenen Verwaltungsdienst an. Als sogenannte Aufsteigerin durfte sie mit ihrem guten Ausbildungszeugnis mit den Abiturienten gleichziehen.

Das war von Anfang an ihr erklärtes Ziel. 1971 wirkte Renate Hartwig am Aufbau der Universität Bremen mit. Damals erwuchs der Campus aus dem GW 1 als Keimzelle. Lange war Hartwig in der Studienberatung tätig, später hatte sie den Posten der Verwaltungsleiterin des Fachbereichs Geowissenschaften an der Universität inne.

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Hartwig verstand es, sich zu behaupten. Das war nicht immer einfach, doch für sie gab es nie einen anderen als ihren Weg. „Ich wusste, wer ich bin“, sagt sie. Die Welt um sie herum begann beengt in einem Bunker. Heute ist sie groß. Im Wohnzimmer erinnern Kissenbezüge mit Leoparden an ihre Liebe zu Afrika, von dem sie viel gesehen hat. Ihre Lieblingstiere, die sie dort in freier Wildbahn gesehen hat, sind die entfernten Verwandten ihrer Kater Poldi und Tobi.

Einmal ist Renate Hartwig in dem Bunker gewesen, der sozusagen ihr Kreißsaal war. Das war vor fünf Jahren, als sie im angrenzenden Diako operiert wurde. Der Pressesprecher des Krankenhauses wurde auf die besondere Geschichte der Patientin aufmerksam und schrieb diese für die Mitarbeiterzeitung auf. Nach dem Eingriff in der Klinik durfte Renate Hartwig in den Bunker hinein, der mittlerweile einen weißen Farbanstrich bekommen hat und das Diako-Logo trägt. In dem Betonklotz sei es unspektakulär gewesen, man habe ihr erzählt, dass dort früher Bänke gestanden hätten. Das Angebot, ihre Geburtsstätte zu sehen, habe sie sich dennoch nicht entgehen lassen wollen. „Ich mag ja gerne Herausforderungen, ich bin überhaupt nicht ängstlich“, sagt sie und lacht.

Durch die völlig zerstörte Stadt

Im Flur des Varreler Reihenhauses hängen drei goldgerahmte Bilder an der Wand. „Auf dem bin ich zehn Jahre alt“, sagt Renate Hartwig und deutet auf das oberste, auf dem sie als kleines Mädchen mit seitlichen Zöpfen in die Kamera lächelt, rechts darunter ist sie mit zweieinhalb Jahren zu sehen in einem von der Großmutter genähten Kleid. Dafür fuhr die Familie durch die völlig zerstörte Stadt bis nach Horn zum Fotografen. Hartwig schüttelt ungläubig den Kopf.

Es waren die ersten Jahre nach dem Krieg. Unten links hängt eine Porträtaufnahme von ihr als 18-Jährige, mitten in der Ausbildung. Ein Fotograf hatte es beim Standesamt Bremen-Mitte geschossen. Für Renate Hartwig sind es Brücken zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt, die sie jeden Tag auf dem Weg zur Tür beschreitet. Sie sagt: „Das, was vergangen ist, habe ich auf dem Schirm, aber auch das, was in der Gegenwart läuft.“

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