Lehrerin Janina Ziegenthaler-Streng (Mia Hanne Wielewicki) hat schlechte Laune. Sie soll nämlich ein neuartiges, vom Kultusministerium erdachtes Nachsitzen-Projekt auf den Weg bringen, das die "schlimmsten" Schüler der Schule versammelt. (Fast) alle haben sich die Teilnahme mit grobem Fehlverhalten verdient, und zur Läuterung und Stärkung ihrer emotionalen Kompetenz sollen sie nun innerhalb von 24 Stunden ein eigenes Theaterstück auf die Beine stellen. Und zwar sich selbst überlassen, denn die Lehrerin verabschiedet sich nach einer kurzen Beschreibung der Aufgabe ins Wochenende. Wer nicht mitmacht, dem droht entweder das Heim oder gleich der Jugendknast. Das ist in etwa das Setting von "Schuld und Bühne – Projekt Nasitten", mit dem die Jugendgruppe des "Theaters an'ne Eck" am Freitag seine Premiere im Ganderkeseer Kulturgarten gefeiert hat.
Auch wenn es für den Betrachter zunächst durchaus eine Herausforderung ist, in dem Gewusel von rund 15 Darstellern auf der Bühne den Überblick zu behalten, gelingt es den Akteuren innerhalb kürzester Zeit, die unterschiedlichen Charaktere herauszuarbeiten. Da sind unter anderem die alkoholsüchtige Amelie (Lilliana Bornstedt), Sarah (Viktoria Bykow), die für ihre Mobbing-Attacken berüchtigt ist, Emma (Nika Fedorov), die Schulverweigerin ("Ich komme nicht so oft"), Mia (Hannah Abel), die viel lieber auf ein Sportinternat gehen würde, Caro (Nele Busch), die gerade ihre Sexualität entdeckt oder der narzisstische Womanizer Matteo (Nino Rodnizki), der überzeugt davon ist, sämtliche Frauen spielend um den Finger wickeln zu können. Zum Glück gibt es Emilia (Marie Schnauber), die sich nicht nur gern als Lehrerin aufspielt, sondern auch einen Schlüssel fürs Lehrerzimmer besitzt. So können erste Probleme gelöst werden, und es gibt zumindest Kaffee.
Countdown zur Selbstfindung
Derweil der Countdown unerbittlich tickt, offenbaren sich die familiären Hintergründe der Figuren – Eltern, die zerstritten sind oder keine Zeit haben, und so entwickelt sich das Nachsitz-Projekt zu einer Art Selbstfindungs-Workshop, in dem immer deutlicher wird, dass auch die Schülerinnen und Schüler und ihre Persönlichkeiten in Rollen gefangen sind. "Ich werde laut, bevor ich wieder unsichtbar bin. Ich weiß, dass es falsch ist, aber falsch ist besser als nichts", sagt Sarah an einer Stelle. Und auch Matteo hasst es, ständig den Clown zu spielen.
Bereits im Vorfeld hatte Autorin und Regisseurin Martina Brünjes erklärt, dass sich das Stück sehr stark an der Lebenswirklichkeit der jungen Darsteller orientiere. Das vermag aber nur zum Teil zu erklären, mit welchem Esprit und welcher Bühnenpräsenz die Elf- bis 17-Jährigen agierten. Die Tatsache, dass mindestens die Hälfte von ihnendas erste Mal auf einer Bühne stand, ließen sie jedenfalls komplett vergessen. Und wie Brünjes sehr verdichtet in nur rund 60 Spielminuten amüsant und trotzdem tiefgehend das Thema Freundschaft bewegt, verdient allerhöchsten Respekt. Andere Theatermacher erzählen in drei Stunden Spielzeit nur einen Bruchteil davon.
Historisches Krimidinner
Die selbst ernannte "Kräuterhexe" Katharina (Leana Wienand) ist eine der Heldinnen im zweiten Teil des Abends: Anlässlich ihres Geburtstags finden sich ihr Freund Tim (Miron Röhling), ihre Freundin Sophie (Mia Hanne Wielewicki) sowie ihre unglücklich verlassene Schwester (Kerstin Schramm) zu einem "historischen Krimidinner" ein. Und als Katharina ihren Gästen einen selbst zubereiteten Kräutertrank verabreicht, teleportiert dieser die Geburtstagsgesellschaft tatsächlich ins 13. Jahrhundert. Dort hat König Karl von Hohenberg-Waldstein unter Androhung von Kerker soeben verfügt, dass die Menschen in Plattdeutsch-Land gefälligst auch Plattdeutsch zu sprechen hätten. Den König plagt überdies die Sorge um seine Tochter, die vermeintlich entführt sein soll, doch man ahnt schnell, dass die junge Frau (Tabea Philine Kruse), die da auf dem Marktplatz hockt, nicht die einfache Schneiderin ist, die sie zu sein vorgibt.
Und so ergibt sich das reizvolle Paradoxon, dass die Besucher aus der Gegenwart die Geschehnisse vor Ort als Spiel betrachten, während die Menschen in Plattdeutsch-Land völlig anders auf die Dinge blicken. Und es verwundert nicht, dass Begrifflichkeiten wie Ebay, Ikea oder Klopapier für gehörige Irritationen im Volk sorgen. Doch spätestens, als Tim droht, am Galgen zu enden, hofft er, dass das "Spiel" auch mal ein Ende haben möge.

Till Dobe als Prinz Vincent (links) und Marlo Vette als Ausrufer in einer Szene aus ”De Verordelte”.
Auch "De Verordelte" beschäftigt sich keineswegs nur am Rande mit dem Innenleben seiner Figuren: Katharina fühlt sich als selbstständige Ladenbetreiberin im Mittelalter sogar so wohl, dass sie am liebsten gar nicht mehr in die Gegenwart zurückkehren würde. Und auch Tim, Sophie und die unglücklich verlassene Schwester lässt der Besuch im 13. Jahrhundert nicht unbeeindruckt zurück.
Beide Gruppen auf hohem Niveau
Dass die "jungen Erwachsenen" auf einem hohen Niveau Theater spielen können, war bereits seit den "Lütten Froens" im vergangenen Jahr bekannt. So war die überraschendste Erkenntnis des Abends vielleicht, dass zwischen den "alten Hasen" und den Jugendlichen überhaupt kein qualitativer Unterschied auszumachen war. Und nach dem Trip ins Mittelalter fragt man sich, welches Zauberelexier Martina Brünjes von dort mitgebracht hat, um insbesondere ihre junge Truppe innerhalb weniger Monate Probenarbeit so bühnenfit zu machen.
Die äußeren Rahmenbedingungen taten ein Übriges, dass die Premiere am Freitag zu einem perfekten Theaterabend geriet. Am Freitag und Sonnabend, 12. und 13. September, stehen im Kulturgarten zwei weitere Aufführungen von "Projekt Nasitten/De Verordelte" auf dem Programm. Tickets gibt es unter Telefon 0 42 22 / 4 44 44 oder online unter www.kulturhaus-mueller.de.