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„Spiel meines Lebens“: Rainer Sewtz Der Siebenmeter-Experte mit den Nerven aus Drahtseil

Kurz bevor aus dem TSB Flensburg die SG Flensburg-Handewitt wurde, erlebte Rainer Sewtz mit der SG Bremen-Ost in Schleswig-Holstein ein bis heute unvergessenes Spiel - sein ganz persönliches „Spiel des Lebens“.
30.11.2020, 08:41 Uhr
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Von Jan-Henrik Gantzkow

Osterholz-Scharmbeck. Rainer Sewtz hat in seiner langen Handballkarriere fast alles erlebt: Unzählige packende Partien, Begegnungen mit Legenden wie dem 340-fachen Nationalspieler Klaus-Dieter Petersen, Auftritte mit der Bremer Landesauswahl in Russland oder emotionale Aufstiege. Und doch muss der 57-jährige Osterholz-Scharmbecker nicht eine Sekunde grübeln, wenn er nach seinem Spiel des Lebens gefragt wird.

„Das ist eindeutig die Regionalliga-Partie mit der SG Bremen-Ost beim TSB Flensburg im Jahr 1988“, erklärt Sewtz ohne zu zögern. Zwar ging es im September vor 32 Jahren nicht um eine Meisterschaft oder einen Aufstieg, dennoch gibt es gute Gründe dafür, dass ausgerechnet der 22:21-Auswärtssieg der Bremer einen besonderen Platz im Herzen des ehemaligen Rückraum-Asses einnimmt. Da wäre einerseits die damalige Ausgangslage zu nennen, die man rückblickend wohl als schier aussichtslos bezeichnen könnte. Nachdem die SG am ersten Spieltag unglücklich gegen Göttingen verloren hatte, stand man bereits vor dem zweiten Spieltag in der dritthöchsten Spielklasse gehörig unter Druck – nun wartetet mit den Flensburgern ausgerechnet der absolute Topfavorit. Sewtz, der seine gesamte Jugendzeit beim VSK Osterholz-Scharmbeck verbracht hatte und erst zwei Jahre zuvor den Sprung in die Regionalliga wagte, plagte sich in der Woche vor der Herkulesaufgabe zudem mit einer Grippe herum. „Das war insgesamt und für mich persönlich natürlich keine optimale Situation. Und dennoch hat die Vorfreude auf das Spiel überwogen“, erinnert sich Sewtz.

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Denn schon damals war Flensburg eine echte Handballhochburg, die TSB sollte nur 24 Monate später zur SG Flensburg-Handewitt fusionieren – dem Deutschen Meister von 2018 und 2019. „Dort war schon immer die Hölle los. Die Halle war restlos ausverkauft, es herrschte eine unglaubliche Stimmung. In Flensburg hat es immer Spaß gemacht“, erzählt der Geschäftsführer eines Bauunternehmens. Er selbst hatte ohnehin eine besondere Beziehung zu Duellen in Schleswig-Holstein: „Ich habe da gefühlt nie verloren, für mich war es eine Art Lieblingsgegner. Dort habe ich 1986 auch meinen ersten Auftritt in der Regionalliga gehabt und gleich neun Tore gemacht“, so Sewtz.

All das spielte vor der Auswärtshürde aber keine Rolle, die Ost-Bremer reisten als klarer Außenseiter zum Titelaspiranten. Spielertrainer Volker Velewald packte seine Teamkollegen im Vorfeld jedoch bei der Ehre und forderte sie auf, die nicht vorhandene Chance zu nutzen. Und genau das sollten die Gäste in den packenden 60 Minuten auch tun: Durch eine beeindruckende Mannschaftsleistung, große Leidenschaft und einen unbändigen Siegeswillen überraschten sie den turmhohen Favoriten von Beginn an. Zwischenzeitlich erspielte sich der Underdog sogar einen 11:5-Vorsprung – auch weil Schlussmann Rainer Lange bravourös parierte.

In der Offensive übernahm hingegen vor allem Rainer Sewtz Verantwortung, insgesamt erzielte er an diesem Tage neun Treffer. Vor allem von der Siebenmeter-Linie war er nicht zu bremsen. Bei sieben erfolgreichen Versuchen ließ er den ehemaligen Bundesligakeeper Peter Lipp ein ums andere Mal verzweifeln. Die Hausherren kämpften sich – angetrieben vom frenetischen Publikum – zwar zurück ins Match, eine Führung ließen die Bremer bis in die Schlussphase allerdings nicht zu. Stattdessen entwickelte sich ein unglaublicher Schlagabtausch, viele hitzige Aktionen und Strafzeiten auf beiden Seiten waren die Folge. Mit viel Herzblut wehrten sich Sewtz und seine Mitstreiter gegen eine Niederlage, in einer hektischen Schlussphase sollten die Flensburger aber doch die Siegchance erhalten. Beim Stand von 20:20 kamen die Gastgeber in der Schlussminute an den Ball – die Halle tobte. Doch Spielertrainer Velewald eroberte den Ball wenige Sekunden vor dem Schlusspfiff, beim folgenden Tempogegenstoß wurde er brutal abgeräumt. Ein Platzverweis für Flensburg und ein alles entscheidender Siebenmeter mit ablaufender Uhr waren die Konsequenz – Rainer Sewtz schnappte sich die Kugel. Doch ausgerechnet in diesem Moment verfehlte der zuvor fehlerfreie Schütze und vergab so die Sensation. Zumindest kurzzeitig, denn nun erreichte die ohnehin schon unfassbare Dramatik ihren Höhepunkt.

Da Flensburger Spieler zu früh in den Kreis gelaufen waren, musste der Strafwurf wiederholt werden. Trotz des vorherigen Fehlwurfes war es für „den Langen“, wie Sewtz von seinen Teamkollegen gerufen wurde, klar, dass er erneut antreten würde. „Da ich einfach sehr viele Siebenmeter geworfen habe, habe ich logischerweise auch nicht wenige danebengesetzt. Darüber habe ich in diesem Moment aber gar nicht nachgedacht. Wenn ich angetreten bin, war ich mir immer sicher zu treffen und habe nie vorher gegrübelt“, erklärt der 1,98-Meter-Mann sein selbstbewusstes Auftreten. Und wurde dafür belohnt.

Im zweiten Anlauf zeigte er keine Nerven und sorgte für den umjubelten Überraschungserfolg. Dieser wurde im Anschluss auf einer feucht-fröhlichen Rückfahrt standesgemäß zelebriert, auch am Ende der Saison sollte es reichlich Grund zum Feiern geben: Nicht, weil den Flensburgern mit einem weiteren Sieg die Meisterschaft endgültig versaut wurde, sondern vielmehr weil sich die SG Bremen-Ost als Tabellensiebter über den souveränen Klassenerhalt freuen durfte.

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Auch heute, mehr als drei Jahrzehnte nach diesem ganz besonderen Spiel, gibt es für Sewtz übrigens noch häufiger die Gelegenheit über den Krimi von Flensburg oder andere Handballfeste zu plaudern – zu vielen Spielern aus der damaligen Truppe herrscht weiterhin reger Kontakt. „Uns hat damals vor allem die Kameradschaft und der Zusammenhalt ausgezeichnet, das war wirklich eine besondere Mannschaft. Noch heute treffen wir uns mindestens zweimal im Jahr. Zum Leidwesen unserer Frauen werden dann natürlich auch immer wieder ein paar Anekdoten von damals herausgeholt“, lacht Rainer Sewtz. Sein Spiel des Lebens in Flensburg dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit und völlig zu Recht dazugehören.

Zur Person

Zur Person

Rainer Sewtz (57)

ist ein echter Vollblut-Handballer. Bereits in der Jugend begann er als Rückraumspieler beim VSK Osterholz-Scharmbeck, auch seine ersten Schritte im Herrenbereich machte er für die Kreisstädter. 1986 zog es den talentierten Akteur dann zur SG Bremen-Ost, wo er in vier Jahren zu einem echten Leistungsträger im Regionalliga-Team reifte. 1990 verletzte er sich allerdings schwer am Knie und musste eine ein längere Zwangspause einlegen. Erst 1992 folgte er dann dem Lockruf seines ehemaligen Mitspielers und Trainers Volker Velewald – und verhalf dem Hastedter TSV mit einem weiteren Strafwurf in letzter Sekunde zum Oberligaaufstieg. Nach einer weiteren Station bei der TuSG Ritterhude ließ er seine Karriere mit alten Weggefährten und Freunden bei seinem Jugendverein ausklingen. Bis 2019 war er auch als Spartenleiter für die Handballer des VSK verantwortlich, aufgrund einiger persönlicher Beziehungen schlägt sein Herz ansonsten vor allem für den THW Kiel. Sewtz ist verheiratet und leitet mit seinem Bruder Michael, der ebenfalls als Handballer aktiv war, in zweiter Generation die Geschicke der Firma „Klaus Sewtz Bauunternehmung“.

Info

Zur Sache

Der bejubelte Aufstieg oder ein tränenreicher Abstieg. Ein unvergessener Sieg, oder die bittere Niederlage in letzter Sekunde. In unserer Serie „Das Spiel meines Lebens“ erinnern sich Sportlerinnen und Sportler an den größten Moment ihrer Laufbahn – ganz egal, ob positiv oder negativ.

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