Plötzlich ist es da. In Schulterhöhe gesellt es sich zum Wanderer. Schmaler langer Schädel, ausgebreitete Flügel, jeder einzelne Knochen des Rückgrates sichtbar. Ein schwebendes Gerippe zwischen zwei Baumstämmen, das aussieht wie das Skelett eines Tieres aus der Urzeit. Ein bisschen unheimlich ist das schon und mindestens genauso mysteriös wie der schwebende Fensterrahmen ein paar Meter weiter. Die Wände, in die er eigentlich eingelassen sein müsste, fehlen. Der Fensterrahmen schwebt in der Luft. Aber sollen wir uns tatsächlich noch wundern? Wir befinden uns in einer Region, zu der auch ein Gebiet gehört, das sich Teufelsmoor nennt. Ein Name für eine Landschaft, die geradezu dafür gemacht ist, dem Unheimlichen und Unerwarteten zu begegnen.
Wir sind an diesem Vormittag schon seit gut vier Stunden zu Fuß unterwegs, fast wieder zurück am Startpunkt, und wir haben in dieser Zeit auch eine Treppe gesehen, die in den Himmel führt und auf ihrem Weg dorthin plötzlich endet. Wir haben eine Brücke beschritten, die über dem Wasser ganz plötzlich einen scharfen Knick macht. Merkwürdige Begegnungen sind das. Aber auch nicht untypisch für die Region.
Den Fensterrahmen und das Urtierskelett hat ein Künstler in den Wald gehängt. Das ist Worpswede, das international bekannte Künstlerdorf am Rande des Teufelsmoores. Von den 5000 Einwohnern im Kernort sind 150 professionelle Künstler und Kunsthandwerker, darunter Maler, Bildhauer, Zeichner, auch Musiker. Es gibt sechs große Museen in Worpswede, Galerien, Ateliers, ein Fotofestival und Musikkonzerte über alle Genres, von Orgelmusik bis Rock. Jeder vierte Arbeitsplatz hier, so heißt es, kann der Kultur- und Kreativwirtschaft zugerechnet werden. Hier ein anregendes Wochenende oder sogar noch ein paar Tage mehr zu verbringen, ist kein Problem.
Wir aber wollen wandern. Allein fünf verschiedene Routen durch die Hammeniederung bietet die Seite kulturland-teufelsmoor.de im Internet an. Start und Ziel für den Rundkurs, den wir wählen, ist der Parkplatz Bergstraße mitten in Worpswede.
Wer in der Hammeniederung wandert, der will seine Ruhe haben, Weite genießen. Tatsächlich gibt es hier draußen nicht viel mehr als feuchtes grünes Land, durchzogen von Gräben. Kilometerweit. Das ist nicht sehr abwechslungsreich, aber die Wirkung dafür beinahe meditativ. Hier wird der Kopf frei. Die Hammeniederung ist Lebensraum und Rastgebiet für eine artenreiche Tierwelt. Fledermaus, Ringelnatter oder Seefrosch halten sich hier am liebsten versteckt, im Unterschied zu Ente, Reiher oder Wachtel, die man hier zu Gesicht bekommt – genau wie ein ganz bestimmtes Flugtier aus der Urzeit.

Malerisch gelegen: die Hammehütte Neu-Helgoland.
Neu Helgoland: Fast wie am Meer
Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glatt denken, dass hier gleich das Meer beginnen muss. Neu Helgoland heißt das Fleckchen, das rund drei Kilometer vom Ortskern Worpswede entfernt liegt. In Neu Helgoland gibt es einen Hafen, einen Torfkahnanleger, einen Kanuverleih und einen Campingplatz sowie einen Badestrand.
Wer heute in der örtlichen Hammehütte Rast macht, der kommt meist von einer Fahrradtour, einer Wanderung durch die Hammeniederung oder von einer gemütlichen Fahrt mit dem Torfkahn oder dem Kanu. Die Hammehütte Neu Helgoland ist eine von mehreren Gaststätten, in die früher die Torfschiffer der Gegend eingekehrt sind, wenn sie auf den mehrtägigen Fahrten nach Bremen und zurück eine Pause brauchten. Heute sind die Hütten schöne, gemütliche Ausflugslokale. Die Torfkähne mit ihren markanten braunen Segeln brechen heute vor allem zu Touren auf, wenn Touristen sie an Wochenenden und an Feiertagen buchen.
Der Name Neu Helgoland übrigens soll die patriotische Haltung der Moorbewohner zeigen und ihren Stolz darauf, die jahrzehntelang britisch besetzte Hochseeinsel Helgoland 1890 zurückbekommen zu haben. So jedenfalls erklärt eine Infotafel am Parkplatz die Namensgebung.

Die Himmelstreppe sieht aus wie eine Rolltreppe, ist aber eine Aussichtsplattform.
Treppe in den Himmel
Es gibt Aussichtstürme. Und es gibt die Himmelstreppe. Der Name verrät es schon: Die Himmelstreppe ist kein Aussichtsturm wie jeder andere. Sie steht in der Hammeniederung und ist fast zehn Meter hoch. Auf der Höhe von 6,30 Metern hat sie einen überdachten Balkon, noch einmal zwei Meter höher liegt eine kleine Kanzel – und dann ist plötzlich Schluss. Es geht nicht höher hinaus. Die gut achteinhalb Meter und 50 Stufen nach oben reichen aber, um einen unverstellten Blick in die nassen Postwiesen zu haben, wo die Wiesenvögel brüten und sich während der Überschwemmungen im Winter Sing- und Zwergschwäne, Graugänse und andere nordische Vögel blicken lassen. Bei guter Sicht sieht man sogar bis Weyerberg.
Die Himmelstreppe war 2009 der erste Aussichtsturm in der Niederung. Geplant hat ihn das Architektenbüro Johannes Schneider aus Bremen, das auch schon Melchers Brücke entwarf. Der Bund Deutscher Architekten hat die Himmelstreppe 2012 ausgezeichnet, genau wie den Aussichtsturm „Weidekorb“ und die Beobachtungshütte „Blickbox“, die ebenfalls in diesem Naturschutzgebiet stehen. Ein weiterer Aussichtsturm ist inzwischen in Neu Helgoland dazu gekommen.

Und plötzlich macht sie mitten über dem Wasser einen Knick: Melchers Brücke von der Worpsweder Seite aus gesehen.
Die Brücke mit dem Knick
Vor ein paar Jahren war an dieser Stelle einfach Schluss. Ende. Kein Weiterkommen mehr hinter Melchers Hütte. Die Hamme, 70 Meter breit, trennte Osterholz-Scharmbeck von der Gemeinde Worpswede auf der anderen Flussseite. Dann setzte sich Heinz-Hermann Müller, ein Diplom-Ingenieur für Luft- und Raumfahrt aus Worpswede, eine Idee in den Kopf: Warum nicht einfach eine Brücke bauen? Einfach war es am Ende für Müller und seine Mitstreiter zwar nicht, ein paar Jahre Prüfungs- und Planungszeit zogen ins Land. Doch im September 2006 war sie tatsächlich fertig: Melchers Brücke. 115 Meter lang – und mit einem ungewöhnlichen und scharfen Knick in der Flussmitte.
Ein Eigentümer hatte sein Grundstück nicht hergeben wollen, also hat die Brücke jetzt eine Abbiegung mit kleiner Aussichtsplattform in der Mitte. Die EU und das Land Niedersachsen übernahmen rund 80 Prozent der Baukosten, die über eine Dreiviertelmillion Euro betrugen. Den Rest teilten sich die Gemeinde Worpswede, der Landkreis Osterholz und die Stadt Osterholz-Scharmbeck – machte ja auch Sinn, schließlich haben jetzt alle etwas davon, nämlich eine bemerkenswerte Verbindung zwischen Künstlerdorf und Kreisstadt.

Das Magazin Wanderbar bietet viele tolle Routen in der Region und nützliche Tipps für Einsteiger und Profis.
Wer, wie, wo, was, wann
Anreise: Mit dem Pkw zum Parkplatz Bergstraße oder per Bus vom Bremer Hauptbahnhof, Linie 670
Streckenlänge: 19,4 Kilometer
Dauer: 4:56 Stunden
Wegbeschaffenheit: Schotter, naturbelassen und befestigt, wenig Asphalt
Vorschläge für die kleine Pause:
Hammehütte Neu Helgoland, Hammeweg 29, Worpswede; täglich geöffnet bis 21 Uhr
Melchers Hütte, An der Hamme 3, Osterholz-Scharmbeck; montags geschlossen
Café Brinkhof, Teufelsmoorstraße 4, Osterholz-Scharmbeck; aufgrund von Corona bis auf Weiteres geschlossen. Das dazugehörige Melkhus ist von April bis Oktober täglich von 11 bis 19 Uhr geöffnet.
In Worpswede gibt es eine große Auswahl an Restaurants, Kneipen und Cafés.
Weiterführende Informationen im Netz:
Hinweis: Wegen Corona können sich die Öffnungszeiten kurzfristig ändern.