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Osterholzer Gesundheitsamt ABC-Schützen mit Sprachproblemen

Rund ein Drittel der jetzigen Erstklässler im Kreis Osterholz haben einen logopädischen Befund. Das ergaben die Schuleingangsuntersuchungen des Gesundheitsamts. Die sprachlichen Defizite bleiben somit Thema.
06.09.2023, 05:00 Uhr
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ABC-Schützen mit Sprachproblemen
Von Bernhard Komesker

Landkreis Osterholz. Rund ein Drittel der neuen Grundschüler haben mit mehr oder minder schweren sprachlichen Defiziten zu kämpfen. Das ist das Ergebnis einer Erfassung des Osterholzer Gesundheitsamts über die ersten Schuleingangsuntersuchungen nach dem Ende der Corona-Pandemie. Nach Angaben von Amtsleiterin Judith Dannenbaum entsprechen die Befunde bei den Erstklässlern, die vor wenigen Wochen eingeschult wurden, ungefähr denen früherer Jahrgänge. Grund zur Entwarnung sei das aber nicht; die Sprachförderung bleibe ein wichtiges Thema.

Der Sozialausschuss des Kreistags hatte Dannenbaums Ausführungen mit Spannung erwartet, denn erstens waren wegen des Infektionsschutzes 2020/21 zahlreiche Untersuchungen ausgefallen. Zweitens werden bundesweit inzwischen mehr Lernrückstände, Verhaltensauffälligkeiten und Adipositas-Fälle bei Schülern diagnostiziert; Fachleute vermuten einen Zusammenhang mit den Kontaktbeschränkungen aus der Zeit des Lockdown. "Wir müssen die Entwicklung im Auge behalten", sagt Dannenbaum mit Blick auf die Osterholzer Zahlen.

Wie viele Kinder des Einschulungsjahrgangs 2023 wurden untersucht?

Im vorvergangenen Winterhalbjahr nahmen 710 Jungen und 638 Mädchen an den gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchungen teil. Behördenangaben zufolge entspricht dies einer Quote von 100 Prozent; bei den rund 60-minütigen Terminen an der Heimstraße wurden die jeweiligen Eltern individuell beraten. Zum aktuellen Einschulungsjahrgang gehören außerdem 32 Jungen und 31 Mädchen, die als sogenannte Flexi-Kinder bereits im Vorjahr untersucht worden waren. Sie wurden im dritten Quartal 2022 sechs Jahre alt und seinerzeit noch nicht eingeschult. Mit einer Gesamtstärke von 1348 Einschulkindern ist der diesjährige Jahrgang erheblich größer als der von vor fünf Jahren. Seinerzeit wurden sämtliche 1045 Kinder untersucht; die Zunahme beträgt damit 29 Prozent.

Wie lauten die Befunde im Bereich Sehen und Hören sowie beim Body-Mass-Index?

217 Kinder benötigen eine Sehhilfe. Das entspricht einem Anteil von 17 Prozent und liegt einen Prozentpunkt über der Quote 2018. Bei 68 der 217 Kinder war die Sehschwäche bislang nicht entdeckt worden. Probleme mit dem Hören hatten 109 Kinder oder acht Prozent des Jahrgangs; vor fünf Jahren waren neun Prozent betroffen. Leicht rückläufig ist der Anteil der Kinder, die als untergewichtig (18 Prozent) oder übergewichtig (acht Prozent) gelten. 957 Kinder oder 74 Prozent hatten zum Untersuchungszeitpunkt Normalgewicht – ein Anstieg um drei Prozentpunkte. Diese und die weiteren Ergebnisse beziehen sich nur auf den aktuellen Jahrgang, ohne die Flexi-Kinder.

Welche Auffälligkeiten zeigten sich bei der Sprachentwicklung?

Einen logopädischen Befund gab es bei 437 untersuchten Kindern. 189 von ihnen hatten nur kleinere, typische Sprachprobleme, die sich ohne weitere Untersuchung oder Therapie bessern dürften. Weitere 155 Kinder befanden sich bereits in Behandlung bei einem Sprachheilkundler oder Facharzt. Hinzu kommen 68 Kinder, bei denen erstmalig Sprachstörungen und Defizite beim altersgemäßen Sprechen aufgedeckt wurden, sodass eine Überweisung zu Diagnostik und Behandlung erfolgte. Für weitere 16 waren wegen erheblicher Sprachauffälligkeiten eine sonderpädagogische Unterstützung und/oder technische Hilfsmittel bereits etabliert.

Wie steht es um die Deutschkenntnisse der Kinder?

Aufgrund gravierender Deutsch-Defizite empfahl das Gesundheitsamt in 159 Fällen eine Maßnahme zur Sprachförderung, um das letzte Kindergartenjahr bestmöglich zu nutzen. Mit 13 der 159 Kinder war keine Verständigung auf Deutsch möglich, 46 sprachen radebrechend und fehlerhaft Deutsch und 100 machten bei ausreichendem Wortschatz erhebliche grammatikalische Fehler. Hinzu kamen 134 Mädchen und Jungen mit leichteren Fehlern und ausreichendem Wortschatz, um sich verständlich zu machen, sowie neun Kinder, bei denen eine Zuordnung etwa infolge einer geistigen Behinderung nicht möglich war.

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Welche Sprache wird in den Elternhäusern der 159 Kinder mit gravierenden Deutsch-Defiziten hauptsächlich gesprochen?

Bei den Kindern mit einer Sprachförder-Empfehlung zeigte sich ein breites Spektrum. Familiensprache war in diesen Fällen Kurdisch (36 Kinder), Deutsch (26), Arabisch (20), Russisch (14), Albanisch (12), Türkisch (8), Serbisch (7), Polnisch, Ukrainisch (je 6), Bulgarisch, Persisch (je 5), Rumänisch, Englisch (je 3) oder eine andere Fremdsprache (8).

Wie steht es bei den untersuchten Kindern um die kinderärztliche Vorsorge?

Die Früherkennungsuntersuchung U 8 hatten 87 Prozent der teilnehmenden Kinder absolviert, vor fünf Jahren waren es 85 Prozent. Ein U 9-Nachweis lag für 76 Prozent der Fälle vor (2018: 77 Prozent). An diese Untersuchung werden Eltern im Gegensatz zur U 8 nicht mehr eigens erinnert; einige Teilnehmer-Kinder waren bei der Schuleingangsuntersuchung, die stets zwischen September und Mai läuft, noch keine fünf Jahre alt und damit zu jung für die U 9.

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Wie weit geht der Impfschutz bei den Kindern?

Mit der Impfquote ist die Leiterin des Gesundheitsamts zufrieden: 96 Prozent der Kinder seien gegen Masern, Mumps und Röteln geimpft gewesen; vor Corona waren es 92 Prozent, was laut Dannenbaum mit der 2020 eingeführten Masern-Impfpflicht zu tun habe. Die Impfquote gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis und Polio lag bei 97 Prozent. Auch die empfohlenen Immunisierungen gegen Pneumokokken, Varizellen, HI-Bakterien und Hepatitis B waren bei 88 bis 96 Prozent der Kinder in den Impfpass eingetragen. Der Anteil der Kinder mit einer Rotaviren-Impfung sei unterdessen auf nunmehr 65 Prozent angestiegen. Diese Impfung wird seit 2013 bei Säuglingen während der ersten sechs Lebensmonate empfohlen und später nicht mehr nachgeholt.

Zur Sache

Untersuchung folgt einer Landesrichtlinie

Schuleingangsuntersuchungen müssen nach Paragraf 5 des Landesgesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst von den Landkreisen angeboten werden. Der Landkreis Osterholz beschäftigt dafür im Gesundheitsamt zwei Ärztinnen, zwei Pflegerinnen und eine Ergotherapeutin. Die Behörden müssen die Ergebnisse nach Paragraf 8 des Gesetzes anonymisiert ans Landesgesundheitsamt (NLGA) übermitteln. Kritiker halten diese Untersuchungsrichtlinie für übertrieben (wir berichteten). Im Landkreis werde sie zu 100 Prozent befolgt, so Amtsleiterin Judith Dannenbaum. 

Die Teilnahme an der Untersuchung ist für die Kinder laut Paragraf 56 des Landesschulgesetzes verpflichtend. Ergänzend geben einige Kindergärten freiwillig sogenannte Beobachtungsbögen ans Gesundheitsamt. All dies dient laut Dannenbaum dem Zweck, staatliche Unterstützung und Prävention zu justieren. "Unser Motto heißt: ,Daten für Taten'." Daher möchte das NLGA auch wissen, welche Nationalität die Eltern des untersuchten Kindes haben, um dessen Gesundheitsdaten des Kindes geht. "Es gibt da Korrelationen", so Dannenbaum.

Das gelte auch für andere, freiwillige Angaben, wie etwa zu Kaiserschnitt oder anderen Umständen der Geburt. Eine Lilienthaler Familie hatte an dem umfangreichen Datenhunger und der impliziten Voreingenommenheit der Fragen Kritik geübt. Erfordernisse, Freiwilligkeit und Rechtsgrundlagen müssten besser begründet werden. Gesundheitsdezernentin Heike Schumacher erwidert, einen Änderungsbedarf bei der Anamnese sehe sie nicht.

Das Prozedere richtet sich nach einem standardisierten Screening-Verfahren namens Sopess, das 2009 an der Uni Bremen entwickelt wurde. Dannenbaum sagt, die Tests seien heute zwar nicht mehr so sehr auf den Körper orientiert wie bei der sogenannten Schulreife im 20. Jahrhundert. Doch auf  psychosoziale und emotionale Aspekte werde noch wenig eingegangen. Diese seien in standardisierter Form nur schwer erfassbar, was für eine Vergleichbarkeit der Daten aber nötig wäre.

Über die Einschulung entscheidet nicht die Behörde, sondern die Schulleitung anhand der Angaben auf einem Meldebogen, den Eltern und Schule nach der Untersuchung ausgehändigt bekommen. Es steht den Eltern frei, auch der Kita eine Kopie zu überlassen. Der Bogen ist eine Empfehlung zur Schulfähigkeit; er skizziert etwaige Entwicklungsrückstände und Besonderheiten in Bereichen wie Grob- und Feinmotorik, Hören und Sehen, Sprachstand und Grundwissen, Zahlen- und Mengenverständnis, Ausdauer und Konzentration.

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