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Bremer Zahlen Immer mehr Kinder mit Sprachdefiziten

Bei sechs- bis zwölfjährigen Kindern nimmt die Häufigkeit der Sprachstörungen rapide zu. Als eine der Ursachen gilt übermäßiger Handy- und Fernsehkonsum.
26.08.2023, 05:00 Uhr
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Immer mehr Kinder mit Sprachdefiziten
Von Frank Hethey

Immer häufiger zeigen sich bei Kindern Störungen beim Spracherwerb. Das geht aus dem aktuellen Barmer-Kinderatlas hervor. Danach wurde 2021 bei 10,5 Prozent der Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren im Land Bremen eine Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert. Das sind 4400 Kinder. Zum Vergleich: 2006 waren rund 2700 Kinder betroffen. Noch drastischer fallen die Daten aus Niedersachsen aus. Im benachbarten Bundesland haben 72.000 Kinder ein Sprachdefizit, das ist eine Quote von 14,1 Prozent.

Der Bremer Kinder- und Jugendarzt Marco Heuerding bestätigt die Daten der zweitgrößten deutschen Krankenkasse. "In unserer Praxis hat sich die Zahl der Logopädieverordnungen in den vergangenen zehn Jahren von rund 300 pro Quartal auf über 600 mehr als verdoppelt", sagt der Mediziner. "Das ist eine dramatische Entwicklung." Als entscheidenden Grund sieht Heuerding übermäßigen Medienkonsum schon bei Zwei- bis Dreijährigen an. "Die Eltern hantieren mit dem Handy und die Kinder auch", sagt Heuerding. Die Folge: "Eltern und Kinder sprechen nicht mehr miteinander." Eine fatale Entwicklung, denn: "Sprache lernt man nur über Austausch und Kommunikation."

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Zunehmende Sprachdefizite beim Nachwuchs erklärt Heuerding auch mit einem deutlich höheren Anteil fremdsprachiger Kinder, die nicht bedarfsgerecht gefördert werden. "Es gibt ganz einfache Regeln beim Spracherwerb", sagt Heuerding. Kinder mit drei oder vier Sprachen gleichzeitig zu erziehen, gelinge nicht mehr. Im Kindergarten neigten fremdsprachige Kinder dazu, sich wegen fehlender Deutschkenntnisse in eigenen Gruppen abzusondern. Beim Schulstart gebe es dann Defizite beim Gebrauch der deutschen Sprache. Anders urteilt die selbstständige Logopädin Jonica Eicke: "Sprachstörungen haben nichts mit der Nationalität zu tun."

Unklar ist, inwieweit die Pandemie zu den Defiziten beim Spracherwerb beigetragen hat. Nach den Barmer-Daten ist der Anteil sprachgestörter Kinder in Bremen von 2019 bis 2021 um 0,8 Prozent gestiegen, gleichzeitig in Niedersachsen um 0,2 Prozent gesunken. Es sei "bisher kein überproportionaler Anstieg oder Abstieg in Zeiten des Lockdowns auszumachen", sagt Heike Sander, Barmer-Landesgeschäftsführerin in Niedersachsen und Bremen. Eindeutige Folgen des Lockdowns konstatiert indessen Jonica Eicke. "Kinder im Alter von bis zu sechs Jahren haben zwei Jahre keinen Kontakt gehabt, wegen der Masken konnten sie keine Gesichter lesen. Für den Spracherwerb ist das schlecht."

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Die Bildungsbehörde kennt das Thema. Zum Kita-Start erklärte Bildungssenatorin Sascha Aulepp (SPD), mithilfe des Primo-Tests habe man 355 Kinder mit Sprachförderbedarf im vorletzten Jahr vor der Einschulung identifiziert. Die Behörde setze nun aufsuchende Arbeit, wenn Eltern ihre Kinder trotz Einladung nicht zum Sprachtest angemeldet hätten.

"Diese Kinder haben Vorrang bei der Aufnahme in die Kitas", so Aulepp. Das Problem: Kinder mit Sprachförderbedarf lebten häufig in Stadtteilen, wo es nicht nur zu wenig Kita-Plätze gebe, sondern auch besonders viele weitere Kinder mit Sprachförderbedarf. "Auch in der Gruppe, die Priorität bei der Kitaplatz-Vergabe hat, sind Kita-Plätze rar", sagte Aulepp. Bisher sei es gelungen, drei Viertel der Kinder mit nachgewiesenem Sprachförderbedarf in die Kitas zu bringen.

Aus Sicht von Heuerding ist die frühkindliche Spracherziehung in den Kitas trotzdem gefordert. "Wir brauchen kleine Gruppen und mehr Personal, auch deutschsprachiges Personal." Das sogenannte Kita-Brückenjahr – die einjährige Kita-Pflicht im Jahr vor der Einschulung für Kinder mit Sprachproblemen – reicht seiner Einschätzung nach nicht aus. "Es ist zu spät, erst ein Jahr vor Schulbeginn Deutsch zu lernen." 

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Die Sprachdefizite müssen laut Marco Heuerding immer häufiger von den Krankenkassen aufgefangen werden. "Spracherwerbsdefizite müssen häufig durch medizinische Leistungen ausgeglichen werden." Der Barmer liegen dazu keine Zahlen vor, tendenziell erscheint Sprecher Michael Erdmann die Einschätzung des Mediziners plausibel. Bleibt die Frage, ob es für Sprachtherapien überhaupt ausreichend Kapazitäten gibt. Die Logopädin Jonica Eicke hält das für ausgeschlossen. In der Regel betrage die Wartezeit für logopädische Behandlungen in Bremen drei Jahre.

Zur Sache

Medienkonsum reduzieren

Der Kinderarzt Marco Heuerding rät Eltern, die Medienzeiten ihrer Kinder drastisch zu reduzieren. Bei Kleinkindern gelte der Merksatz: "Vor Drei fernsehfrei!" Bis zum Alter von zehn Jahren sollte der Fernsehkonsum laut Heuerding 30 Minuten pro Tag nicht übersteigen. Die Gefahr bei Fernsehen und digitalen Medien: Die Sprache werde nur passiv konsumiert, aber nicht aktiv angewendet. Eine angemessene Dosierung des Medienkonsums empfiehlt die Logopädin Jonica Eicke. Zu viel Medienkonsum mache unruhig, die Kinder bräuchten auch mal Ruhephasen. "Sie müssen lernen, sich zu konzentrieren." Stark vernachlässigt wird Heuerding zufolge das Vorlesen. Sinnvoll sei ein festes Vorleseritual vor dem Einschlafen. Wobei es mit dem Vorlesen allein nicht getan sei, danach müsse auch darüber gesprochen werden. Denn: "Sprache lernen funktioniert nur über die gemeinsame Kommunikation." Eltern sollten mehr mit ihren Kindern sprechen. "Stellen Sie Fragen und haben Sie Geduld, sich auf die Antworten einzulassen", sagt Heuerding.  

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