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Scheeßel Wie zwei Hütehunde ihre Schafherde erfolgreich vor dem Wolf schützen

Sie sind geboren, um zu schützen, sagt Nicole Benning über ihre Herdenschutzhunde, Kangals, die ursprünglich aus Anatolien stammen. Warum sie der beste Schutz vor Wölfen sind - und trotzdem nicht unumstritten.
13.04.2022, 16:56 Uhr
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Wie zwei Hütehunde ihre Schafherde erfolgreich vor dem Wolf schützen
Von Marc Hagedorn

Die beiden Lämmchen sind erst seit wenigen Minuten auf der Welt. Die Schnucke hat sie auf der Weide geboren. Scheu schmiegen sich die Kleinen an ihre Mutter, weit abseits der Herde halten sie sich auf. Die anderen Tiere, es sind bestimmt 100 Schafe und Ziegen, beachten sie gar nicht. Außer Debbie und Hogan.

Debbie und Hogan sind Hirtenhunde, Kangals, die ursprünglich aus Anatolien stammen. Es gibt Menschen, die haben Angst vor ihnen. In zwei Bundesländern gilt der Kangal als „gefährlicher Hund“, in Hamburg und Hessen ist das eine amtliche Bezeichnung für diese Rasse. Debbie, sechs Jahre alt, und Hogan, drei Jahre, sind muskulös und schwer. Vorsichtig nähern sie sich der kleinen Schaf-Familie. Die Schnucke ist mit Debbie und Hogan vertraut, ganz nahe lässt sie die Hunde heran. „Da geht einem doch das Herz auf, oder?“, sagt Nicole Benning.

Nicole Benning und ihr Mann Holger betreiben die Schäferei Wümmeniederung in Scheeßel im Landkreis Rotenburg. Die Bennings besitzen um die 2000 Schafe, verteilt auf zehn Herden. Jetzt zur Winterweide verteilen sie sich auf Flächen in einem Radius von 15 Kilometern rund um Scheeßel. Im Sommer weiden sie hoch bis Hamburg in Naturschutzgebieten, auch in Harburg, Winsen an der Luhe oder im Landkreis Cuxhaven. 

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Debbie und Hogan, sein Bruder heißt Hulk, sind zwei von 26 Herdenschutzhunden, die die Bennings züchten und ausbilden. Plötzlich horchen Debbie und Hogan auf. „Sie haben irgendetwas gesehen“, sagt Nicole Benning, und im nächsten Moment schießen Debbie und Hogan wie zwei Pfeile über die Weide Richtung Straße. Am Elektrozaun, der das Stück Land einfasst, bauen sie sich auf. Sie wirken jetzt mächtig und furchteinflößend. Sie bellen laut.

Auch wenn sich die Aufregung in diesem Fall als Fehlalarm entpuppt. Sie tun hier ihren Job. Sie schützen ihre Herde vor einer potenziellen Gefahr. Einer ihrer ärgsten Gegner ist: der Wolf. In der Saison 2021/22 sind im Bremer Umland bisher mehr als 100 tote Nutztiere dokumentiert worden, von Wölfen gerissen, zumeist Schafe, aber auch Ziegen, Rinder und Pferde, die meisten davon laut Wolfsmonitoring in den Landkreisen Osterholz, Cuxhaven, Diepholz und Rotenburg.

Das Umweltministerium geht davon aus, dass mindestens 350 Wölfe in Niedersachsen leben. Die Zahl der Wolfsangriffe ist seit Beginn des Monitorings kontinuierlich gestiegen, von acht registrierten Fällen 2012 auf über 230 im vergangenen Jahr.

Die Bennings arbeiten seit 2012 mit Kangals. Ihre Bilanz seitdem: kein Riss in ihren Herden, „trotz des steigenden Wolfsdrucks“, wie Benning sagt. In Verbindung mit Elektro-Zäunen seien Herdenschutzhunde wie ihre Kangals eine „unschlagbare Kombination“. Trotzdem setzt nur eine vergleichsweise kleine Zahl an Schafhaltern Herdenschutzhunde ein. Warum? Das ist ein Thema, das Nicole Benning leidenschaftlich diskutieren kann.

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Herdenschutzhunde machen Arbeit. Ihr Unterhalt ist vergleichsweise teuer. Und manchmal kann es auch Ärger geben. „Ein Kangal“, sagt Nicole Benning, „ist geboren, um zu schützen.“ Er verteidigt sein Territorium vor Eindringlingen und ist nicht zu verwechseln mit dem Hütehund, der dem Schäfer dabei hilft, eine Herde beisammen zu halten. Eindringlinge können neben Wölfen vor allem in touristischen Gebieten auch Wanderer sein, die auf ihrer Route eine Abkürzung mitten durch eine Schafherde nehmen wollen. Oder Radfahrer, die an eine Schafherde heranbrausen. Oder Hunde, die von der Leine gelassen den Schutzzaun überwinden und auf die Herde zustürmen. „Dann gibt es Stress“, sagt Nicole Benning.

Eine „ordentliche Beißerei“, wie Nicole Benning es nennt, habe es bei ihnen in den vergangenen zehn Jahren gegeben. Der Eindringling, ein frei laufender Hund, wurde schwer verletzt, Bennings Kangal als „gefährlicher Hund“ von der Behörde aus dem Verkehr gezogen. „Er darf jetzt nicht mehr arbeiten“, sagt Nicole Benning. Fair findet sie das nicht.

Die Politik fördert die Anschaffung von Herdenschutzhunden großzügig. Allerdings, kritisiert Benning, hätten die Schafhalter keine Rechtssicherheit, wenn es zu Konflikten mit anderen Hunden komme. „Da ist jeder Fall dann Auslegungssache, da gibt es keinen verlässlichen Rahmen“, sagt Benning. Für sie ist es ein Widerspruch zu sagen: „Wenn der Schutzhund gegen Wölfe aktiv wird, ist es okay. Aber wenn er seine Herde gegen einen anderen Hund verteidigt, ist es das nicht? Das funktioniert nicht.“

Wenn Nicole Benning und ihr Mann mit ihren Herden neue Flächen zum Abweiden vorbereiten, haben sie neben vielen Metern Elektro-Zaun auch jede Menge gelbe Schilder dabei. Es stehen Hinweise darauf, dass hier eine Schafherde von einem Schutzhund bewacht wird, verbunden mit Verhaltenstipps. „Das Bellen der Hunde ist ein Warnsignal“, heißt es auf den Tafeln. Das bedeutet: Nicht den Zaun überqueren. Aber auch nicht wegrennen, sondern ruhig weitergehen. Vom Fahrrad absteigen und schieben, vom Pferd absteigen und es am Zügel führen. Den eigenen Hund anleinen. Oder wie Nicole Benning es ausdrückt: „Ein bisschen Sensibilität für die Situation zeigen und den gesunden Menschenverstand einsetzen.“

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Die Hunde von Nicole Benning wachsen als Welpen unter Schafen und unter Menschen auf. Debbie und Hogan mögen bedrohlich wirken. Aber gut ausgebildet, sagt Benning, seien sie „ausgesprochen menschenfreundlich“. Um zu demonstrieren, wie souverän und deeskalierend Kangals auftreten können, zeigt sie gern ein Video, das ihr eine Frau geschickt hat, der sie zwei Welpen verkauft hat. Die Hunde sind inzwischen groß.

In dem Film ist zu sehen, wie eine Kuh ziemlich sauer ist. Wie ein Stier vor einem Torero mit rotem Tuch baut sich die Kuh vor einem Kangal auf, der auf der Weide gern an ihr vorbeigehen würde. Das gibt gleich Ärger, denkt man als Zuschauer. Die Kuh scharrt mit den Hufen und der Kangal? Bleibt ganz cool. Fletscht nicht die Zähne. Bellt nicht einmal. Sondern setzt sich einfach hin. Es dauert gar nicht lange, und die Kuh hat sich beruhigt. Sie lässt den Hund passieren.

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