Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Netzwerk Erinnerungskultur Dauerhafte Gedenkstätte

Der ehemalige Reichsbahnwaggon ist restauriert und soll nun als dauerhafte Gedenkstätte an seinem neuen Platz an der Bertha-Benz-Straße als Ort zum Erin­nern, Gedenken und Lernen dienen.
27.06.2021, 14:44 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Susanne Ehrlich

Darauf hatte der Verein "Verdener Wag­gon im Netzwerk Erinnerungskul­tur" lange gewartet: Das Fest zur Einweihung des restaurier­ten ehemaligen Reichs­bahnwaggons auf einem eigens dafür be­reitgestellten Areal der Berufsbildenden Schulen (BBS) konnte unter gro­ßer Beteiligung der Öf­fentlichkeit stattfinden. Nach zwei Corona-beding­ten Absagen wurde der festliche Anlass bei strahlendem Son­nenschein mit vielen Ansprachen und mit den engagierten politischen Songs der Band "Microphone Mafia" gewürdigt.

Die Vorsitzenden des Vereins, Bio-Landwirt Ehler Lohmann und Pfarrer Wilhelm Timme, begrüßten die Anwe­senden auf dem großen Areal hin­ter den Schulgebäuden, das eigens zur dauer­haften Aufstellung des Waggons mit frisch gepflanzten Bäumen, blühen­den Wiesen, einem Wandelgang mit Schau­tafeln und einem eigenen kleinen Bahn­steig hergerichtet worden ist.

Landrat lobt Erinnerungskultur

Landrat Peter Bohlmann verlieh seiner Freude darüber Ausdruck, "dass dieser zivilgesellschaftliche Akt gelungen ist". Er wies auf zahlreiche weitere Gedenk­orte im Landkreis und auf mittlerweile 106 "Stolpersteine" hin, die nicht nur an die ermordeten jüdischen Bürger im Landkreis, sondern auch an die gedan­kenlose Grausamkeit der Täter erinnern sollen: "Es waren nicht nur die Schergen in den Vernichtungslagern"; es seien auch Ärzte, Richter, Buchhalter, ganz normale Bürger gewesen, die das Vernichtungs­werk ermöglicht hätten: "Auch derje­nige, der die Lok fuhr!" Das alles sei nur möglich gewesen, weil der Hass gegen Minderheiten auf fruchtbaren Boden stieß. Gerade deshalb müsse man "daran erinnern, wohin Fremdenfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit führen können".  

Verdens Bürgermeister Lutz Brockmann warnte vor einseitigen Sichtweisen auf die Problematik: "Die Demokratie wird nicht scheitern an wenigen Prozenten, sondern nur dann, wenn die Mitte diese Demokratie nicht mehr trägt!" Timme und Lohmann erzählten die Ge­schichte des Eisenbahnwaggons und sprachen über ihre eigenen Motive der Vereinsgründung und über die Restaura­tion des geschichtsträchtigen Waggons.

Lesen Sie auch

Im Jahr 1910 erbaut, diente er in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhun­derts der Verschleppung Hunderttausen­der zur Zwangsarbeit in Hitlers Reich; 1998 wurde er vom Regionalhistoriker Joachim Woock durch einen Zufall auf einem Abstell­gleis im ostdeutschen Wurzen entdeckt und auf das Areal der BBS gebracht, um dort als Gedenkort ausgestellt zu wer­den; im Jahr 2007 wurde er von Gegnern genau dieses Gedenkens verbrannt – so schloss sich ein fataler Kreis!

Verein gründete sich 2018

Doch die Geschichte eines einfachen, aus Holz gezimmerten Eisenbahnwag­gons sollte damit nicht beendet sein. Nachdem der zerstörte Waggon als schwarz verkohltes Mahnmal eine Zeitlang direkt vor dem Verdener Rat­haus gestanden hatte, sei er, so Timme, nach Wittlohe überführt worden, wo er sich als Gemeindepfarrer mit seinen Konfirmanden des Themas angenommen habe. Im Jahr 2018 gründete sich der Verein "Verdener Waggon im Netzwerk Erinnerungskultur".

Gefördert vom Landkreis Verden, von Sponsoren aus Wirtschaft und Kirchenkreis sowie vom Netzwerk Wabe, unterstützt von zahl­reichen Vertretern der Kreisverdener Handwerkerschaft, wurde der Waggon restauriert und soll nun als dauerhafte Gedenkstätte an seinem neuen Platz an der Bertha-Benz-Straße als Ort zum Erin­nern, Gedenken und Lernen dienen. Dort kann er für individuelle Begehungen, zu Unterrichtszwecken, für Ausstellungen, Theater, Konzerte und vieles mehr ge­nutzt werden, um die Erinnerung an das damalige Geschehen aufrecht zu erhalten und die Wachsamkeit gegenüber neuen rassistischen und menschenverachtenden Tendenzen in unserer Zeit zu schärfen.

Die ehemalige Wittloher Konfirmandin und heutige Vereinsaktivistin Judith Wieters erzählte, auf welche Weise der Waggon bis heute zu Geschichtsbe­wusstsein und politischer Bildung der Wittloher Jugend beigetragen habe. In jedem Jahr fahren die Konfirmanden nach Bergen-Belsen, konfrontieren sich mit der Enge und dem Grauen eines sol­chen menschenverachtenden Transports, lassen Stimmen damaliger todgeweihter Jugendlicher lebendig werden. "Niemals wieder darf sich ein Mensch über andere stellen; kein Mensch kann weniger wert sein als der andere", rief Judith Wieters den Anwesenden zu.

Bewegende Episoden

Die mit Spannung erwartete Hauptper­son des Abends, Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano, musste zum Bedauern aller Anwesenden den Termin absagen. Mit ihren 96 Jahren immer noch mit Le­sungen und ihrer Begleitband "Mic­rophone Mafia" unterwegs, musste sie diesmal vor einer Atemwegserkrankung kapitulieren. Kein Corona; sie ist bereits wieder auf dem Weg der Besserung. Ihr Sohn Joram las an ihrer Stelle aus ihrem Buch "Erinnerungen" einige bewegende Episoden von Todes­angst, Solidarität und Überleben. 

Zum Abschluss gaben Joram Bejarano und Kutlu Yurtseven, zwei der drei Mit­glieder der "Microphone Mafia", ein Konzert mit fetzigem Rap, politischen Liedern und der beeindruckend lebendi­gen, energiegeladenen Stimme Esther Bejaranos als Playback. Auf diese Weise konnte die bewundernswert mutige und engagierte alte Dame dennoch mitten im Geschehen sein.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)