Darauf hatte der Verein "Verdener Waggon im Netzwerk Erinnerungskultur" lange gewartet: Das Fest zur Einweihung des restaurierten ehemaligen Reichsbahnwaggons auf einem eigens dafür bereitgestellten Areal der Berufsbildenden Schulen (BBS) konnte unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden. Nach zwei Corona-bedingten Absagen wurde der festliche Anlass bei strahlendem Sonnenschein mit vielen Ansprachen und mit den engagierten politischen Songs der Band "Microphone Mafia" gewürdigt.

Der ehemalige Reichsbahnwaggon auf dem Gelände der BBS wurde nun feierlich eingeweiht und dient fortan als Gedenkstätte.
Die Vorsitzenden des Vereins, Bio-Landwirt Ehler Lohmann und Pfarrer Wilhelm Timme, begrüßten die Anwesenden auf dem großen Areal hinter den Schulgebäuden, das eigens zur dauerhaften Aufstellung des Waggons mit frisch gepflanzten Bäumen, blühenden Wiesen, einem Wandelgang mit Schautafeln und einem eigenen kleinen Bahnsteig hergerichtet worden ist.
Landrat lobt Erinnerungskultur
Landrat Peter Bohlmann verlieh seiner Freude darüber Ausdruck, "dass dieser zivilgesellschaftliche Akt gelungen ist". Er wies auf zahlreiche weitere Gedenkorte im Landkreis und auf mittlerweile 106 "Stolpersteine" hin, die nicht nur an die ermordeten jüdischen Bürger im Landkreis, sondern auch an die gedankenlose Grausamkeit der Täter erinnern sollen: "Es waren nicht nur die Schergen in den Vernichtungslagern"; es seien auch Ärzte, Richter, Buchhalter, ganz normale Bürger gewesen, die das Vernichtungswerk ermöglicht hätten: "Auch derjenige, der die Lok fuhr!" Das alles sei nur möglich gewesen, weil der Hass gegen Minderheiten auf fruchtbaren Boden stieß. Gerade deshalb müsse man "daran erinnern, wohin Fremdenfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit führen können".
Verdens Bürgermeister Lutz Brockmann warnte vor einseitigen Sichtweisen auf die Problematik: "Die Demokratie wird nicht scheitern an wenigen Prozenten, sondern nur dann, wenn die Mitte diese Demokratie nicht mehr trägt!" Timme und Lohmann erzählten die Geschichte des Eisenbahnwaggons und sprachen über ihre eigenen Motive der Vereinsgründung und über die Restauration des geschichtsträchtigen Waggons.
Im Jahr 1910 erbaut, diente er in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Verschleppung Hunderttausender zur Zwangsarbeit in Hitlers Reich; 1998 wurde er vom Regionalhistoriker Joachim Woock durch einen Zufall auf einem Abstellgleis im ostdeutschen Wurzen entdeckt und auf das Areal der BBS gebracht, um dort als Gedenkort ausgestellt zu werden; im Jahr 2007 wurde er von Gegnern genau dieses Gedenkens verbrannt – so schloss sich ein fataler Kreis!
Verein gründete sich 2018
Doch die Geschichte eines einfachen, aus Holz gezimmerten Eisenbahnwaggons sollte damit nicht beendet sein. Nachdem der zerstörte Waggon als schwarz verkohltes Mahnmal eine Zeitlang direkt vor dem Verdener Rathaus gestanden hatte, sei er, so Timme, nach Wittlohe überführt worden, wo er sich als Gemeindepfarrer mit seinen Konfirmanden des Themas angenommen habe. Im Jahr 2018 gründete sich der Verein "Verdener Waggon im Netzwerk Erinnerungskultur".
Gefördert vom Landkreis Verden, von Sponsoren aus Wirtschaft und Kirchenkreis sowie vom Netzwerk Wabe, unterstützt von zahlreichen Vertretern der Kreisverdener Handwerkerschaft, wurde der Waggon restauriert und soll nun als dauerhafte Gedenkstätte an seinem neuen Platz an der Bertha-Benz-Straße als Ort zum Erinnern, Gedenken und Lernen dienen. Dort kann er für individuelle Begehungen, zu Unterrichtszwecken, für Ausstellungen, Theater, Konzerte und vieles mehr genutzt werden, um die Erinnerung an das damalige Geschehen aufrecht zu erhalten und die Wachsamkeit gegenüber neuen rassistischen und menschenverachtenden Tendenzen in unserer Zeit zu schärfen.
Die ehemalige Wittloher Konfirmandin und heutige Vereinsaktivistin Judith Wieters erzählte, auf welche Weise der Waggon bis heute zu Geschichtsbewusstsein und politischer Bildung der Wittloher Jugend beigetragen habe. In jedem Jahr fahren die Konfirmanden nach Bergen-Belsen, konfrontieren sich mit der Enge und dem Grauen eines solchen menschenverachtenden Transports, lassen Stimmen damaliger todgeweihter Jugendlicher lebendig werden. "Niemals wieder darf sich ein Mensch über andere stellen; kein Mensch kann weniger wert sein als der andere", rief Judith Wieters den Anwesenden zu.
Bewegende Episoden
Die mit Spannung erwartete Hauptperson des Abends, Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano, musste zum Bedauern aller Anwesenden den Termin absagen. Mit ihren 96 Jahren immer noch mit Lesungen und ihrer Begleitband "Microphone Mafia" unterwegs, musste sie diesmal vor einer Atemwegserkrankung kapitulieren. Kein Corona; sie ist bereits wieder auf dem Weg der Besserung. Ihr Sohn Joram las an ihrer Stelle aus ihrem Buch "Erinnerungen" einige bewegende Episoden von Todesangst, Solidarität und Überleben.
Zum Abschluss gaben Joram Bejarano und Kutlu Yurtseven, zwei der drei Mitglieder der "Microphone Mafia", ein Konzert mit fetzigem Rap, politischen Liedern und der beeindruckend lebendigen, energiegeladenen Stimme Esther Bejaranos als Playback. Auf diese Weise konnte die bewundernswert mutige und engagierte alte Dame dennoch mitten im Geschehen sein.