Vor 100 Jahren kaufte ein junger Künstler für sich und seine Braut ein altes Fischerhaus in dem kleinen Badeort Dangast am Jadebusen. Im Deutschen Reich herrschte 1923 galoppierende Inflation. Doch Franz Radziwill (1895-1983) hatte Glück: Der aufstrebende Maler verkaufte zwei expressionistische Zeichnungen für harte Dollars, wie seine Tochter Konstanze Radziwill (75) erzählt.
So konnte die Kate bezahlt werden; Radziwill wurde an der Nordsee sesshaft, heiratete – und änderte radikal seinen Malstil. Heute ist sein Haus ein Museum. "Alles auf Anfang" heißt die neue Ausstellung im Franz-Radziwill-Haus. Ab Sonntag erinnert der Künstlerort Dangast damit an seinen berühmtesten Maler.
Künstler haben ein Gespür für außergewöhnliche Landschaften. So erhebt sich Worpswede mit dem Weyerberg über das flache Teufelsmoor bei Bremen. Das Dorf wurde Sitz einer Künstlerkolonie um Fritz Mackensen, Heinrich Vogeler, Paula Modersohn-Becker. Dangast liegt nicht hinterm Deich, sondern auf einem Geestrücken. Bäume und Niedersachsen-Häuser stehen auf einem einzigartigen Hochufer über dem Wattenmeer.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg entdeckten die Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Heckel von der Künstlergruppe Brücke Dangast als Sommerfrische und als Motiv. Nach dem Krieg empfahl Schmidt-Rottluff den Ort auch dem jüngeren Kollegen Radziwill. Der logierte 1921 zum ersten Mal im Dorfkrug, den es bis heute gibt. An die 1923 gekaufte, gemütliche Fischerkate baute der gelernte Maurer über die Jahre ein Wohnhaus mit großem Atelier an.
"Er war von Anfang an im Dorfleben integriert", sagt die Tochter Radziwills, die Autorin und Filmemacherin ist und die Ausstellung mit kuratiert hat. "Er trat sofort dem Kegelklub bei." Die Nachbarn freuten sich, wenn Radziwill beim Mauern half oder Särge zimmerte. Seinen Hauptberuf als Maler sahen viele Dangaster eher als "eigenartiges Hobby", wie sie sagt.
Die Nordsee veränderte Radziwills Schaffen
Dangast taucht in vielen Bildern Radziwills auf – zum Beispiel das Kurhaus, ein Treffpunkt der Künstler und der Badegäste und bis heute ein kultiges Restaurant. Oder im Gemälde "Der zerbrochene Wintermond" von 1924: "Das ist der wunderbare Oststrand von Dangast, von dem leider nichts mehr übrig ist", sagt Tochter Radziwill.
Radziwills Schaffen veränderte sich an der Nordsee. Er beschäftigte sich mit der Natur. Der Autodidakt, der nie eine Akademie besucht hatte, studierte alte Meister. Er malte realistischer, versah aber seine Bilder mit irritierenden Perspektiven und Größenverhältnissen. "Er ist der wichtigste Vertreter des Magischen Realismus", sagt die Kunsthistorikerin Mara-Lisa Kinne vom Landesmuseum Oldenburg. Sie rechnet Radziwill mit seinen ungewöhnlichen, ausdrucksstarken Bildern zu den wichtigsten deutschen Malern des 20. Jahrhunderts.
Kultur ist für den Tourismus wichtig
Vergangenes Jahr zählte Dangast als südlichster Badeort an der Nordsee 563.000 Übernachtungen. Viele Tagesgäste reisen aus Oldenburg und Bremen an. Es gibt Schlickschlittenrennen und das jährliche Rockfestival "Watt en Schlick". Kultur bleibt im Tourismusmarketing wichtig. "Aus dem Künstlerdorf hat sich der Künstlerort Dangast entwickelt, der weit über unsere Stadt in die Region hinein strahlt", sagt Gerd-Christian Wagner, Bürgermeister der Stadt Varel, zu der Dangast gehört. "Diese Strahlkraft zu bewahren ist eine große Aufgabe für alle Beteiligten."
Ein Kunstpfad erinnert seit 2004 an alle Künstler, deren Schaffen mit Dangast verbunden ist. Dazu gehören auch Schüler von Joseph Beuys wie Anatol Herzfeld oder Eckart Grenzer, die den Ort ab den 1960er Jahren besuchten. Der Oldenburger Bildhauer Grenzer setzte 1984 einen frechen Riesenphallus an den Strand, der die Grenze zwischen männlichem Land und weiblichem Meer symbolisieren soll. Von ihm stammt auch der Friesendom von 2005. Dessen Felssäulen mit Glocke sollen an die Opfer aller Sturmfluten an der Nordsee erinnern.