Hoch hinauf geht es für den FDP-Spitzenkandidaten Stefan Birkner. Über unzählige Treppenstufen und manchmal gebückt unter Balken erreicht der Fraktionschef die Turmspitze des rund 900 Jahre alten Rathauses von Duderstadt. Der Ausblick ins Abendrot ist fantastisch; Birkner fühlt sich von den sanften Hügeln am Stadtrand an die Toskana erinnert. Bürgermeister Thorsten Feike erläutert seinem Gast aus Hannover die spektakuläre Dächerlandschaft der rund 600 Fachwerkhäuser des historischen Städtchens im Eichsfeld dicht an der Grenze zu Thüringen: „Das ist unser Flächendenkmal.“
Problem: Um dem Denkmalschutz Genüge zu tun, muss die rote Fläche der Dachziegel in Gänze erhalten bleiben. Was aber passiert, wenn die Hauseigentümer Fotovoltaikanlagen installieren wollen oder künftig auch aufgrund der Klimagesetze müssen? Sonnenkollektoren gebe es inzwischen auch in Rot, erzählt das Stadtoberhaupt. Dann stelle sich jedoch die Frage, wer für die erheblichen Mehrkosten aufkomme. Birkner diskutiert interessiert mit. 38 Meter über der Fußgängerzone fühlt sich der ehemalige Umweltminister sichtlich in seinem Element. Bürgermeister Feike ist schließlich ein Parteifreund. 2019 hat der FDP-Mann nach dem vorzeitigen Abgang des CDU-Amtsinhabers die Wahl in dieser eigentlich tiefschwarzen Kommune mit großem Abstand gewonnen.
FDP hofft auf mindestens sieben Prozent
Eine ähnliche Überraschung erhofft sich der Spitzenkandidat nun auch vom Wahlabend am 9. Oktober: so stark werden, dass eine Regierungsbeteiligung an der FDP vorbei unmöglich wird, lautet das optimistische Ziel. Dass die Liberalen in den Umfragen bei gerade noch fünf Prozent liegen und sogar um den Wiedereinzug in den Landtag bangen müssen, wischt Birkner mit einem siegessicheren Lächeln beiseite. Mindestens sieben Prozent seien drin. Man nimmt ihm die Zuversicht ab: Bei der zweistündigen Autofahrt in Niedersachsens Süden wirkt der FDP-Landesvorsitzende tiefenentspannt und gut gelaunt.
Sogar über die Eskapaden seines Kieler Parteifreundes Wolfgang Kubicki, der am Vorabend auf einer Wahlkampfveranstaltung in Hildesheim vor 200 Zuhörern den türkischen Präsidenten Recep Erdogan als „Kanalratte“ beleidigt hat, geht Birkner schmunzelnd hinweg. Selbst würde der frühere Richter und Staatsanwalt solche Ausdrücke niemals benutzen. Aber ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für die Landes-FDP kann offenbar auch aus Sicht des pragmatischen Politikers nicht schaden. Mit pfiffigen Slogans, bunten Plakaten und schrägen Spots in den sozialen Netzwerken heben sich die Liberalen zwar deutlich von der politischen Konkurrenz ab. Bei den meist bodenständigen Niedersachsen zündet die ungewöhnliche Kampagne allerdings noch nicht so richtig.
In Duderstadt sucht Birkner nicht den direkten Kontakt zum Wahlvolk. Im Nebenzimmer des Restaurants „Budapest“, dessen Wirt selbstredend FDP-Mitglied ist, trifft sich beim „Offenen Stammtisch“ ein Dutzend Parteifreunde rund um den örtlichen Direktkandidaten Patrick Jung. Mit dem Vorsitzenden wollen sie die Lage in Hannover und in der Welt zu diskutieren. Es geht natürlich zuallererst um explodierende Energiepreise, um die von Birkner vehement geforderte längere Laufzeit des Atomkraftwerks Emsland in Lingen, um die Sorgen der Bäcker und andere Mittelständler, um Lehrermangel und Förderschulen. Dass ein örtliches Mitglied Gespräche mit Russlands Diktator Putin über neue Gaslieferungen verlangt, wehrt Birkner energisch ab. „Wir dürfen uns auf derartige Kreml-Spielchen nicht einlassen. Sonst würden wir unsere westlichen Partner verlieren, die wir dringend brauchen.“
Solche Termine dienten der Motivation der Parteifreunde, damit sie in den wenigen verbleibenden Tagen bis zur Wahl noch mal alles geben, erklärt der Spitzenkandidat auf der Rückfahrt. Das sei mindestens genauso wichtig wie die Großveranstaltungen mit der FDP-Prominenz aus Berlin oder Bürgerwahlkampf vor Ort. „Die Leute sind total aufgeschlossen“, berichtet Birkner. „Als FDP haben wir auch schon andere Zeiten erlebt.“

FDP-Spitzenkandidat Stefan Birkner (rechts) stellt sich im Landtag einem Streitgespräch mit Schülern – hier mit Lukas Kramer.
Ein kleines Wechselbad der Gefühle erlebt der Parteichef am Nachmittag, als er sich im Landtag gemeinsam mit den Spitzenkandidaten von SPD, CDU und Grünen den Fragen von Schülern stellt. Birkner wirbt für ein Grundrecht auf Internet, das nicht nur Anschlüsse garantieren, sondern auch vor dem Ausspionieren durch den Staat schützen soll. Der 15-jährige Gymnasiast Lukas Kramer aus Göttingen hält dagegen. Natürlich sei Internet längst ein Grundbedürfnis wie Wasser, Nahrung oder Wohnraum. Aber diese Bedürfnisse seien keine Grundrechte. „Wieso dann das Internet?“ Da wären doch wohl sauberes Wasser und saubere Luft eher dran, Verfassungsstatus zu bekommen. Die Abstimmung der rund 200 Jugendlichen fällt mehrheitlich gegen den FDP-Chef aus.

Auf der Treppe vor dem Landtag ist der Andrang für Selfies mit FDP-Spitzenkandidat Stefan Birkner (Zweiter von links) groß.
Fans hat Birkner hier trotzdem reichlich. „Darf ich ein Foto machen?“, fragt eine Lehrerin aus Wolfenbüttel und lichtet ihren Schüler Lars mit dem Fraktionsvorsitzenden ab. Draußen auf der Treppe vor dem Leineschloss wartet ein regelrechter Selfie-Ansturm auf den Spitzenkandidaten. „Ja, klar“, antwortet Birkner immer wieder auf die vielen Bitten der Jugendlichen. Da bedauert er wohl insgeheim, dass seine Fraktion sich trotz vieler Anläufe zum Absenken des Wahlalters auf 16 Jahre nicht gegen SPD und CDU durchsetzen konnte.