Die Türkei lässt den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel nach mehr als einem Jahr in der Untersuchungshaft frei. Das teilte sein Arbeitgeber, die Zeitung "Welt", am Freitag auf ihrer Internetseite mit. Yücels Anwalt Veysel Ok twitterte am Mittag ein Foto des befreiten Yücel, auf dem er seine Ehefrau Dilek Mayatürk umarmt.
Zuvor hatte Ok von der geplanten Freilassung bei Twitter berichtet. Er schrieb: "Und endlich gibt es für meinen Mandanten Deniz Yücel einen Entlassungsbefehl." Die Bundesregierung bestätigte dies. "Jetzt müssen wir natürlich abwarten, was in den nächsten Minuten, Stunden passiert", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Yücels Ehefrau Dilek Mayatürk Yücel schrieb auf Twitter: "Endlich!!! Endlich!!! Endlich!!! Deniz ist frei!" Dahinter setzte sie ein Herz.
Staatsanwaltschaft fordert bis zu 18 Jahre Haft
Trotz der Freilassung soll in der Türkei ein Strafverfahren gegen Yücel eröffnet werden. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, das 32. Strafgericht in Istanbul habe die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft am Freitag angenommen. Die Staatsanwaltschaft fordere darin wegen "Propaganda für eine Terrororganisation" und "Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindseligkeit" zwischen vier und 18 Jahre Haft.
Zugleich habe das Gericht die Freilassung Yücels aus der Untersuchungshaft angeordnet, meldete Anadolu weiter. Das ist kein unübliches Verfahren in der Türkei: Gerichte können zu Beginn eines Verfahrens oder auch davor die Freilassung von Verdächtigen aus der Untersuchungshaft verfügen. Aus türkischen Behördenkreisen hieß es, die Freilassung sei "vollständig nach rechtsstaatlichen Prinzipien" erfolgt. "Es hat keinerlei politische Einmischung gegeben."
Bundesaußenminister Sigmar Gabriel rechnet fest damit, dass Yücel sehr bald das Land verlassen darf. Das sagte er am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sitzen derzeit noch fünf Deutsche aus politischen Gründen in der Türkei in Haft. Ihre Namen werden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht mitgeteilt. Die Bundesregierung fordert ihre Freilassung.
Fall Yücel wurde zum Politikum
Der Fall war zuletzt der größte Streitpunkt im Verhältnis zur Türkei. Yücel hatte sich am 14. Februar 2017 freiwillig der Justiz gestellt und war kurz darauf in Untersuchungshaft genommen worden. Anschließend wurde gegen ihn wegen Terrorvorwürfen Untersuchungshaft verhängt. "Das war ein richtiger Agent und Terrorist", sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im April. Eine Anklage wurde jedoch bis Freitag nie vorgelegt. Zuletzt war Bewegung in den Fall gekommen.
Mit der Freilassung bemüht sich die Regierung in Ankara offensichtlich um Entspannung im Verhältnis zu Deutschland. Der türkische Premierminister Binali Yildirim sagte am Freitag am Rande der Münchener Sicherheitskonferenz: "Es scheint, dass heute einige Probleme in den deutsch-türkischen Beziehungen der letzten Zeit gelöst wurden."
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich am Freitag hoffnungsvoll, dass die Freilassung "Bedingungen schafft, die zu einer Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen führen".
Bundesaußenminister Gabriel (SPD) äußerte sich in einer Mitteilung erleichtert über die Freilassung Yücels. "Ich freue mich sehr über diese Entscheidung der türkischen Justiz. Und noch mehr freue ich mich für Deniz Yücel und seine Familie. Das ist ein guter Tag für uns alle", betonte Gabriel. Er dankte auch der türkischen Regierung für ihre "Unterstützung bei der Verfahrensbeschleunigung". Er habe in den vergangenen Monaten viele direkte Gespräche mit der türkischen Regierung zur Beschleunigung des Verfahrens geführt. Dazu gehörten auch zwei Treffen mit Erdogan.
Menschenrechtler: Noch weitere 100 Journalisten in türkischer Haft
Die türkische Regierung habe immer Wert darauf gelegt, dass sie keinen politischen Einfluss auf die Gerichtsentscheidung nehmen werde, sagte Gabriel. Die Unabhängigkeit der Gerichtsentscheidung war immer zentrales Anliegen in allen Gesprächen. "Zwei Menschen möchte ich besonders danken: dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavosoglu, der diese Kontakte und Gespräche und vor allem die Beschleunigung des Verfahrens deutlich gemacht hat. Und der deutschen Bundeskanzlerin für ihr Vertrauen in die Arbeit des Auswärtigen Amtes in diesem schwierigen Fall. Ich bin sehr froh über diesen Ausgang."
Der Deutsche Journalistenverband (DJV) hat die angekündigte Freilassung Yücels als "Sieg für die Pressefreiheit" bezeichnet. Der Korrespondent der "Welt" habe sich in der Haft nicht unterkriegen lassen, sagte der DJV-Vorsitzende Frank Überall am Freitag. Als "absurd" bezeichnete er die Forderung der Anklage nach 18 Jahren Haft für Yücel. Amnesty International bezeichnete die Freilassung als "lange überfällig". Die Menschenrechtsorganisation wies jedoch darauf hin, dass noch mehr als 100 Journalisten in der Türkei inhaftiert seien, ebenso wie der türkische Vorsitzende von Amnesty, Taner Kilic. "Alle Staaten bleiben gefordert, deutlich und kontinuierlich die türkische Regierung an die Einhaltung der Menschenrechte und rechtstaatlicher Prinzipien zu erinnern“, sagte Amnesty-Generalsekretär Markus Beeko.
Auch der FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff pocht auf die Freilassung weiterer Gefangener in der Türkei. "Die Freilassung eines einzelnen Journalisten ändert nichts an der rasanten Talfahrt der türkischen Demokratie, des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung", sagte Lambsdorff am Freitag. Es seien weiterhin sechs Deutsche und mehr als 100 türkische Journalisten in Haft. "Sie dürfen wir nicht vergessen, es gilt #freethemall", erklärte der Politiker.
Noch am Donnerstag hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einem Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim in Berlin betont, "dass dieser Fall eine besondere Dringlichkeit für uns hat". Yildirim äußerte bei dem Treffen lediglich die Hoffnung auf einen baldigen Gerichtsprozess. Einen möglichen Termin für das Vorlegen einer Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft und für den Beginn eines Verfahrens nannte er aber nicht.
Can Dündar: Erdogan hat Gegenleistung bekommen
Der türkische Journalist Can Dündar fürchtet negative Konsequenzen aus der Freilassung Yücels auf die Pressefreiheit in der Türkei. "Sie wird negative Folgen haben, weil Erdogan nun weiß, dass es möglich ist, über inhaftierte Journalisten zu verhandeln", sagte der in Berlin im Exil lebende Ex-Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" der Deutschen Presse-Agentur. "Erdogan hat etwas als Gegenleistung dafür bekommen, wir wissen nur noch nicht, was. Also warum sollte er nicht noch weitere Journalisten festnehmen lassen?"
Dündar lebt seit dem Sommer 2016 in Deutschland. Der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet" hatte nach einem Bericht über eine Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes an islamistische Milizen in Syrien wegen Spionage drei Monate in der Türkei im Gefängnis gesessen.
Verantwortlich für die Freilassung Yücels ist nach Dündars Überzeugung eine Entscheidung der türkischen Regierung. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe darum gebeten, daraufhin habe der türkische Präsident entschieden, Yücel freizulassen. "So funktioniert das Rechtssystem in der Türkei." Deutschland hätte sich nach Dündars Ansicht besser für einen Rechtsstaat in der Türkei einsetzen sollen, statt nur einen Einzelfall zu lösen.
(dpa/wk)
++ Die Meldung wurde zuletzt aktualisiert um 16.15 Uhr. ++

Deniz Yücel saß seit über einem Jahr im Gefängnis.