Die öffentlichen Warnungen der Amerikaner vor einer „unmittelbar“ bevorstehenden russischen Invasion in der Ukraine klingen zunehmend dringlich. Der außenpolitische Berater des russischen Präsidenten, Juri Ushakow, spielte die westliche Besorgnis nach dem Telefonat zwischen Wladimir Putin und US-Präsident Joe Biden vom Sonnabend als "beispiellos hysterisch" herunter. Es gehe den USA bloß darum, berechtigte Sicherheitsanliegen Russlands zu diskreditieren. Die Behauptung eines bevorstehenden Einmarsches sei "absurd".
Im Weißen Haus wird das ganz anders gesehen. Es gebe weiterhin keine Anzeichen dafür, dass Putin die Lage an der Grenze entschärfen wolle. Dort haben rund 130.000 russische Soldaten die Ukraine von drei Seiten eingekesselt. Kurz nach dem einstündigen Telefon-Gipfel der Präsidenten, erklärte ein hoher Mitarbeiter Bidens, es habe "keine fundamentale Veränderung in der Dynamik gegeben". Beide Seiten wollten in Kontakt bleiben, "aber Russland könnte sich dennoch dazu entschließen, seine militärischen Pläne auszuführen."
Es stehen Aussage gegen Aussage. Doch die Amerikaner haben mit einer nach Einschätzung von Russlandexperten wie Angela Stent von der Georgetown University "ungewöhnlichen Strategie" das Heft des Handels zurück in die Hand genommen. Diese besteht darin, Erkenntnisse der eigenen Geheimdienste zeitnah öffentlich zu machen. Entweder durch gezieltes Durchstechen an Reporter, Unterrichtungen von "hohen Mitarbeitern der Regierung" oder direkten Warnungen aus dem Mund des US-Präsidenten.
Expertin Stent, die im Weißen Haus von George Bush Senior und Bill Clinton die Ostpolitik der USA koordinierte, erkennt darin den Versuch der Regierung, "einen militärischen Konflikt zu vermeiden". Bedrängt mit Nachfragen über die Zuverlässigkeit seiner Informationen bestätigte der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan vor Reportern am Freitag ungewollt die Strategie der Informationsschlacht mit Russland: "Wir versuchen, einen Krieg zu stoppen."
Sullivan sah sich einmal mehr skeptischen Vergleichen mit dem Irak-Krieg ausgesetzt, wo die US-Regierung unter Berufung auf Geheimdienstinformationen behauptete, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen. "Im Irak sind Geheimdiensterkenntnisse genutzt und von diesem Podium aus eingesetzt worden, einen Krieg zu beginnen", betonte der Sicherheitsberater Bidens den Unterschied.
Dass der Telefon-Gipfel zwischen den Präsidenten bereits am Samstag stattfand, und nicht Anfang der Woche, begründeten das Weiße Haus mit der Dringlichkeit. Sicherheitsberater Sullivan hatte bei seinem Briefing am Freitag vor dem Telefon-Gipfel von der "glaubwürdigen Erwartung" einer unmittelbar bevorstehenden Militäraktion gesprochen. Belege dafür legte er keine vor, weil damit die Quellen nicht preisgegeben werden sollten.
Dieses Argument benutzte auch der Sprecher des Außenministeriums, Ned Price, bei seinen Pressekonferenzen. „Drucken Sie sich das Protokoll doch aus“, wies er Matt Lee von der Associated Press zurecht. Dieser hatte Price fünf Minuten lang gegrillt, welche Beweise es für Behauptung gebe, dass die Russen ein Fake-Video über ukrainische Gräueltaten an der russischsprachigen Bevölkerung als Vorwand für einen Einmarsch nutzen wollten.
Die für Europa zuständige Ministerialdirektorin Victoria Nuland breitete ebenfalls ohne Quelle in einem Interview das Szenario aus, ein Angriff könnte über Belarus erfolgen. Dabei könnten sich Russen in Uniformen der belarussischen Armee beteiligen. Es gab eine Warnung über eine Provokation unter "falscher Flagge" in der Ostukraine, die als Vorwand genutzt werden könnten. Und die Briten steuerten die Behauptung bei, Putin plane einen Regimewechsel, für den bereits eine Marionetten-Regierung bereitstehe.
Die Mischung aus Informationen über den Truppenaufmarsch, die mit Satelliten-Bildern unabhängig belegt werden können, und die Spekulationen über die Motive des Kreml hinter der Drohkulisse trägt zu dem bei, was der preußische Militärvordenker Carl von Clausewitz im 19. Jahrhundert einmal als "Nebel des Krieges" beschrieb. Im Zeitalter der elektronischen Netzwerke bekommt das eine andere Bedeutung. Und Putin hat sich als Meister der Desinformationen einen Namen gemacht.
Die Überrumpelung des Westens bei der russischen Krim-Annexion 2014 steckt den Amerikanern noch immer in den Knochen. "Ich hatte damals dutzende Male gedacht, wir würden unsere Interessen fördern, wenn wir der Welt gesagt hätten, was wir wussten", bedauerte der damalige US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul den seinerzeit restriktiven Umgang mit Erkenntnissen im Vorfeld der Invasion.
Biden erlebte als Vizepräsident Barack Obamas die Konsequenzen aus nächster Nähe, in der Krim auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein. Das soll nicht noch einmal passieren lassen. Seine neue Nationale Geheimdienstdirektorin Avril D. Haines und CIA-Chef William J. Burns sorgen für eine enge Abstimmung mit den Partnern in der Nato. Und zeigen sich offen für die ungewöhnliche Strategie, die darauf abzielt, das Kalkül Putins und seines Machtzirkels zu beeinflussen.
Das Risiko besteht in einem Verlust der Glaubwürdigkeit, wenn sich Voraussagen als nicht richtig erweisen. Geheimdienst-Experten wie Andrea Kendall-Taylor halten das in diesem Fall für das kleinere Problem. Wenn sich die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Invasion als falsch herausstellen sollte, "dürfen wir uns alle darüber freuen".