Vier Tage nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet entdecken Helfer noch immer Überlebende unter eingestürzten Häusern. Trotz der eisigen Kälte in der Katastrophenregion hörten die Einsatzteams immer wieder die Laute Verschütteter, die verzweifelt auf Hilfe warteten, berichtete eine Reporterin des staatlichen Fernsehsenders TRT World am Freitagmorgen. "Wir machen weiter, bis wir sicher sind, dass es keine Überlebenden mehr gibt", zitierte sie einen Sprecher der Einsatzkräfte.
Und tatsächlich berichten türkischen Medien immer noch von "unglaublichen Überlebensgeschichten": Helfer haben ein zehn Monate altes Baby mit seiner Mutter gerettet – die beiden harrten 90 Stunden unter den Trümmern aus. Nach Angaben der Feuerwehr wurden die beiden in der Nacht zu Freitag im Bezirk Samandag der Provinz Hatay lebend gefunden. In Hatay retteten Helfer zudem einen Mann nach 101 Stunden unter Trümmern. Die Rettungskräfte benötigten zehn Stunden, um ihn unter einem Betonblock zu befreien, wie der Sender CNN Türk berichtete. In Gaziantep hatten Helfer einen 17-Jährigen nach 94 Stunden lebend gerettet. Er sagte anschließend, er habe seinen Urin getrunken, um nicht zu verdursten.
Nach so langer Zeit noch lebende Verschüttete zu bergen, gleicht aber nahezu einem Wunder. Nur in seltenen Fällen überlebt ein Mensch mehr als drei Tage ohne Wasser, zumal bei eisigen Temperaturen.
Die Zahl der Toten in beiden Ländern steigt daher rasant weiter, bis zum frühen Freitagmorgen auf mehr als 21.000 Opfer. Die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad meldete am Freitagmorgen allein in der Türkei 18.342 Tote. Die Zahl der Verletzten lag bei 74.242. In Syrien wurden bislang mehr als 3300 Tote gefunden. "Es gibt hier keine Familie, die nicht betroffen ist", sagte ein Mann, der in Kahramanmaras dabei half, Gräber auszuheben.
Internationale Hilfe nach Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet
Oktay dankte allen Helfern. 75 Länder weltweit hätten Teams entsandt, sagte der Vizepräsident. Mehr als 8000 Verschüttete wurden bislang gerettet. Experten befürchten aber, dass noch Zehntausende Erdbebenopfer unter den eingestürzten Gebäuden liegen könnten.
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Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert. Montagmittag folgte dann ein weiteres Beben der Stärke 7,6 in der Region.
Wegen der Katastrophe sollen die Flaggen an den obersten Bundesbehörden in Berlin und Bonn am Freitag auf halbmast hängen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ordnete die Trauerbeflaggung an.
Die Europäische Union sprach den Menschen in der Türkei und Syrien ihr Beileid aus und stellte weitere Hilfe in Aussicht. "Unsere Gedanken sind bei den Familien, die ihre Geliebten verloren haben, und bei denjenigen, die immer noch auf Neuigkeiten warten", hieß es in einem von EU-Ratschef Charles Michel veröffentlichten Brief an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Das Schreiben war beim EU-Gipfel in Brüssel von allen 27 Staats- und Regierungschefs unterschrieben worden.
Die Weltbank kündigte an, der Türkei Unterstützung in Höhe von 1,78 Milliarden US-Dollar (1,65 Milliarden Euro) zur Verfügung zu stellen. Damit sollen die Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen vorangetrieben werden, wie die Weltbank in Washington erklärte. Es sei zudem eine rasche Schadensbewertung eingeleitet worden, um das Ausmaß der Katastrophe abzuschätzen und vorrangige Bereiche für die Unterstützung des Wiederaufbaus zu ermitteln.
Die Bundesregierung arbeitet mit daran, die Versorgung der Menschen im schwer erreichbaren Nordsyrien zu verbessern. Das Problem sei, dass die Regierung und ihre Truppen zuletzt keine humanitäre Hilfe in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Land gelassen hätten, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im WDR-Radio.
Der einzige Grenzübergang Bab al-Hawa war schon vor dem Erdbeben eine wichtige Lebensader für rund 4,5 Millionen Menschen im Nordwesten des Landes, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert werden. 90 Prozent der Bevölkerung waren dort bereits vor der Katastrophe nach UN-Angaben auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Region leben Millionen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrieben wurden. "Die Menschen sind mit einem Alptraum nach dem anderen konfrontiert", sagte UN-Generalsekretär Antonio Guterres.
+++ Dieser Artikel ist am 10. Februar um 7.58 Uhr aktualisiert worden. +++