„Politiker, egal welcher Partei, sind nur allzu bereit, auf den Zug der Justizkritik aufzuspringen und so zur fortschreitenden Erosion des Rechts beizutragen“, sagen Sie in ihrem Buch. Wie kommen Sie darauf?
Jens Gnisa: Die Politik hat daran mitgewirkt, dass unser Rechtsstaat nicht mehr so gut dasteht wie früher, denn sie hat die Justiz über Jahrzehnte vernachlässigt. Sind die Bürger wegen schwerer Straftaten oder Vorkommnissen wie in der Silvesternacht in Köln beunruhigt, fordern Politiker die volle Härte des Rechtsstaates oder neue Straftatbestände und Gesetze. Das setzt die Gerichte unter Druck.
Dürfen Politiker das nicht fordern?
Politiker haben sich aus Gerichtsentscheidungen rauszuhalten. So bestimmt es die Gewaltenteilung. Mit solchen Forderungen untergräbt die Politik das Vertrauen in die Gerichte, weil die angewendeten Gesetze lückenhaft erscheinen. Dabei stimmt das gar nicht: Werden die Gesetze konsequent angewendet, gibt es selten Lücken.
CSU-Politiker Alexander Dobrindt kritisiert, dass Klagen gegen die Abschiebung von Kriminellen den gesellschaftlichen Frieden stören. Das genaue Gegenteil Ihrer These, oder?
Wir leben in einem Rechtsstaat. Wer die hiesigen Rechte und Rechtsmittel nutzt, dem darf man keine moralischen Vorhaltungen machen. Wenn die Politik das ändern will, dann muss sie die Gesetze ändern.
Wie könnte das im Asylrecht aussehen?
Momentan muss jedes Verwaltungsgericht in den einzelnen Bundesländern von Fall zu Fall prüfen, ob ein Recht auf Asyl vorliegt. Dabei sind die Urteile sehr unterschiedlich. Deswegen sollte es klare Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtes geben können, die ein Regelwerk für die Bundesländer schaffen, an denen sich die dortigen Gerichte orientieren können.
Ist die Flüchtlingskrise ein Beispiel, dass der Rechtsstaat nicht mehr funktioniert?
Bei vielen Asylverfahren wird das Recht nicht konsequent umgesetzt. Das Aufenthaltsgesetz kennt nur zwei Formen: Jemand darf bleiben, weil er einen Aufenthaltstitel hat, oder er muss das Land verlassen. Wir haben aber zu viele Grauzonen geduldet. Das hat es für die Mitarbeiter der Ausländerbehörden schwer gemacht, denn die deutsche Öffentlichkeit machte sie für Abschiebungen verantwortlich. Diese wurden oft negativ gesehen. Die Politik hingegen hat sie alleine gelassen. Wenn Gesetze veraltet sind, müssen sie geändert werden. Aber bis es etwa ein Einwanderungsgesetz gibt, gelten die alten Regeln.
Warum werden die Gesetze nicht konsequent durchgesetzt?
Es gibt viele Indizien, dass das System hakt: Wenn ein Verfahren zu lange dauert, werden Verdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen. Bei 30 Prozent aller Wirtschaftsstrafprozesse werden die Angeklagten wegen der Länge des Verfahrens zu einer geringeren Strafe verurteilt, als das Gericht eigentlich für angemessen hielt.
Auch am Bremer Landgericht sind die Mitarbeiter überlastet. Sind faire Verfahren überhaupt noch gewährleistet?
Die meisten Strafverfahren laufen gut vor den Gerichten. Aber wenn eine Strafkammer von 50 Fällen im Jahr nur zwei oder drei hat, die aus dem Ruder laufen, wird es schon schwierig. Denn diese Fälle fressen zu viel Zeit. Außerdem werden die Verfahrenslaufzeiten immer länger. Natürlich bemüht sich die Justiz auch darum, diese Probleme zu bewältigen. Aber ohne Hilfe aus der Politik funktioniert das nicht.
Welche Probleme meinen Sie?
Es gibt immer mehr Gesetze. Das entspricht den Erwartungen und dem Sicherheitsempfinden der Bürger. Alles muss bis ins Detail geregelt sein. Damit wird aber die Handhabung für Juristen immer schwieriger. Durch strengere Feuerschutzvorschriften wird beispielsweise mehr Sicherheit gewährleistet, aber auch die Bauauflagen und die Bürokratie werden immer umfangreicher. Die Gesellschaft erdrosselt sich irgendwann mit zu viel Recht selbst. Das Recht sollte nur ein Mindestmaß für das Funktionieren der Gesellschaft vorgeben. Wo das Recht aufhört, beginnt die Freiheit des Bürgers.
Sie warnen vorm Ende des Rechtsstaates. Wie könnte das aussehen?
Wir werden zum Schlachtfeld der Rechtspopulisten. Das sehen wir in Polen, wo die Politik taktisch gegen die Justiz und Richter vorging. Damit hat die Regierung das Vertrauen in die Justiz untergraben und rechtsstaatliche Garantien abgebaut, ohne dass die Bürger das kritisieren. Recht umzusetzen in einem Rechtsstaat ist nicht immer einfach. Wir dürfen uns nicht nur an Mehrheitsentscheidungen oder am sogenannten gesunden Volksempfinden orientieren. Das System ist immer noch vertrauenswürdig, auch wenn es Fehler gibt.

Jens Gnisa ist Autor des Buches "Das Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm".
Wie können sie behoben werden?
Es gibt drei entscheidende Themen, bei denen schnelles Handeln nötig ist: Die Ausstattung, das Personal und die Sachmittel für die Gerichte müssen deutlich verbessert werden. Außerdem gilt es, die Verfahrensordnung zu überarbeiten, um komplizierte Langzeitprozesse zu vermeiden. Zuletzt muss auch die Justiz digital werden, zum Beispiel mit elektronischen Akten. Das Gute ist aber: Im neuen Koalitionsvertrag sind im sogenannten Rechtsstaatsakt genau diese Dinge verzeichnet. Auch in den Bundesländern geht die Politik auf die Justiz zu. In Niedersachsen ist beispielsweise das Ende des Personalmangels im neuen Koalitionsvertrag festgelegt. Natürlich auch, weil die Bürger viel genauer hinschauen, wie Regeln und Gesetze durchgesetzt werden.
Woran hapert es?
Diese Schritte kosten Geld. Die Politik erwartet oft von einer effizienten Justiz, dass sie immer kostengünstiger wird. Aber das Recht kann man nicht ökonomisieren, sonst funktioniert die Gesellschaft nicht.
Das Gespräch führte Lisa-Maria Röhling.
Jens Gnisa ist Autor des Buches "Das Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm". Er ist seit 2012 Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und hat seit April 2016 den Bundesvorsitz des Deutschen Richterbundes inne.