Frau Achelwilm, am Ende dieser Woche findet der Parteitag der Linken statt. Obwohl Sie Bundestagsabgeordnete sind, findet sich Ihr Name nicht unter den Kandidierenden für den Vorstand. Warum eigentlich?
Doris Achelwilm: Ich freue mich sehr über die beiden Vorsitzenden, die zur Wahl stehen. Und ich finde, dass für den erweiterten Parteivorstand genug Mandatsträgerinnen und -träger kandidieren. Auch die Basis muss vertreten sein.
Sie machen seit gut drei Jahren von Berlin aus Politik für Ihren Wahlkreis. In Bremen regiert eine rot-grün-rote Koalition. Da wäre es doch angemessen, für Ihren Landesverband den Hut in den Ring zu werfen.
Wir haben gute Kandidatinnen wie Maja Tegeler. Und natürlich ist Bremen in der Wahrnehmung der Partei wichtig, wir sind ein West-Land mit linker Regierungsbeteiligung. Da gibt es auch in der Bundestagsfraktion und an der Basis viel zu besprechen. Das muss ich nicht zwingend über den Parteivorstand machen.
Dem Duo Janine Wissler/Susanne Hennig-Wellsow werden als Parteivorsitzende gute Chancen eingeräumt. In einem Doppelinterview hat Hennig-Wellsow sich jüngst für eine linke Regierungsbeteiligung im Bund ausgesprochen, Wissler eher dagegen. Wie beantworten Sie diese Machtfrage?
Dialektisch. Die unterschiedlichen Strategieansätze werden sich ergänzen. Susanne Hennig-Wellsow ist in Thüringen Vorsitzende einer Fraktion in Regierungsbeteiligung, sie wünscht sich, dass sich unsere politische Gestaltungsmacht verändert. Janine Wissler führt in Hessen die Landespartei in der Opposition, sie behandelt gesellschaftliche Konflikte stark über Bewegungen und Gewerkschaften. Aus meiner Sicht schließt sich das nicht aus, weil es auch die Haltungen und Perspektiven unserer Mitgliedschaft gut repräsentiert.
Repräsentanz ist das eine, aber wenn es tatsächlich zum Schwur käme – wären Sie für eine Regierungsverantwortung der Linken im Bund?
Es kommt immer auf die Inhalte an. Das sehen Wissler und Hennig-Wellsow sicher genauso. Wichtig für die Linke ist, mit einer offensiven Programmatik in diese Bundestagswahl hineinzugehen, um gerade in diesen Zeiten politisch Einfluss nehmen zu können. Wenn in Koalitionsverhandlungen genug rumkommt, um einen solidarischen, sozialökologischen gesellschaftlichen Wandel hinzukriegen, kann man sich einigen. Wenn nicht, dann nicht.
Die Linke ist sowohl auf Partei- als auch Fraktionsebene berüchtigt für ihre Streitlust. Könnte sie die programmierte Spannung in Regierungsverantwortung aushalten?
Ich wünsche mir, dass wir uns unsere Streitkultur erhalten. Wir sollten sie jedoch dahingehend besser nutzen, dass wir Konflikte um real- oder grundsatzpolitische Positionen nicht als unvereinbare Gegensätze behandeln. Wir sind eine pluralistische Partei, deren Mitglieder sehr unterschiedlich sozialisiert sind. Am Ende müssen wir Lösungen anbieten und sagen, wohin wir steuern. Klar ist, dass wir uns mit unseren Positionen links von der SPD und den Grünen wiederfinden.
Apropos. Warum sollte die SPD mit einer Partei koalieren, die sich 2007 aus Protest gegen die Sozialdemokratie gegründet hat?
Das stimmt, wir haben uns aus Protest gegen Hartz IV und andere Fehlreformen unter Schröder/Fischer gegründet und seither konsequent gegen Sozialabbau angekämpft. Wenn es da in der SPD die Einsicht gibt, dass Hartz IV ein Fehler war und korrigiert wird, lässt sich anders miteinander reden. Dafür gibt es seitens der SPD immerhin Signale. Und dass das klappen kann, hat sich 2019 in den Koalitionsverhandlungen in Bremen gezeigt. Man muss vernünftig miteinander reden.
Sie haben das Ohr an Ihrem Landesverband. Worüber wird es beim Parteitag Streit geben? Oder fällt der coronabedingt aus?
Tatsächlich können wir auf diesem digital abgehaltenen Parteitag nicht so breit und vertieft diskutieren, wie das nötig wäre. Als Knackpunkte gelten immer unsere friedens- und außenpolitischen Auseinandersetzungen. Da ist unser Wahlprogramm eng an unseren Grundsatzpositionen. Das Zweiprozentziel der Nato gilt leider nach wie vor, Deutschland hat eine immense Aufstockung von Rüstungsausgaben – dagegen stellen wir uns. Wir wollen eine Politik der Entspannung und zivilen Konfliktlösung, das wird auf dem Parteitag deutlich werden.
Als Sie 2017 in den Bundestag einzogen, gab es in der Fraktion viel Stress wegen der Fraktionsführung. Seit Amira Mohamed Ali statt Sahra Wagenknecht vorne steht, ist es ruhiger geworden. Tut das der Arbeit der Abgeordneten gut?
Ja. Es tut der Sachpolitik gut, wenn Personalpolitik in den Hintergrund tritt.
Beim Leipziger Parteitag 2018 hat Wagenknecht gesagt: „Den Hungernden in Afrika nutzen offene Grenzen nichts.“ Sie sind für Ihre flüchtlingspolitischen Positionen bekannt – haben Sie sich da zu Wort gemeldet?
Nicht in dieser Debatte, nein. Ja, ich bin dagegen, Stimmungen das Wort zu reden, die besonders seit 2015 gesellschaftliche Spaltung an Migration und Zuwanderung festmachen. Wir müssen seit der letzten Bundestagswahl einen harten Rechtsruck erleben und erleiden. Das hat auch im Bundestag die ganze Kultur verändert: Rassismus wird durch die AfD befördert, statt die tatsächlichen Gründe gesellschaftlicher Ungleichheit anzugehen. Wir als Linke müssen Solidarität zeigen und das Miteinander organisieren, statt Vorbehalte und Ängste herauszustellen.
Im Bundestag sind Sie Mitglied im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Einer Ihrer Schwerpunkte ist Gender- und Queer-Politik. Würden Sie den Ausschuss gern anders benennen?
Diese Titel unterliegen immer auch dem jeweiligen Zeitgeist. Relevant finde ich, dass die strukturelle Benachteiligung von Frauen über das Familienministerium adressiert wird. Zugleich wünsche ich mir, dass Geschlechterpolitik als Querschnittsaufgabe verstanden wird, gerade in den finanzstarken Ressorts. Zugleich sollten Handlungsbedarfe aufgrund von Rassismus, Homo- und Transfeindlichkeit erkennbar sein.
Können Sie verstehen, wenn im Grunde politisch Interessierten und Gutwilligen Bezeichnungen wie LSBTIQ* für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche sowie weitere queere Personen arg bemüht vorkommen?
Sprache ist eine Grundlage unseres Handelns. Wir benennen mit ihr, was wir wie im Blick haben. Ich kann verstehen, wenn Begriffe oder Abkürzungen aus bestimmten Politikfeldern nicht geläufig sind und versuche oft auch zu vermitteln, mit Kontext näher zu bringen, worum es geht.
Müsste Politik sich nicht einer Sprache bedienen, die einer breiteren Öffentlichkeit verständlich und zugänglich ist?
Politische Vertreter müssten häufiger nicht nur erklären, was eine Abkürzung bedeutet, sondern welches Anliegen dahinter steht. Warum genau differenziert werden muss innerhalb des queeren Spektrums, etwa zwischen Transpersonen und Homosexuellen. Sprachliche Entwicklungen können aber nicht deshalb ignoriert oder zurückgenommen werden, weil noch nicht alle mitgehen. Oft ist es nur eine Frage der längeren Praxis, bis etwas gebräuchlicher ist. Ein Beispiel: Als ich vor vielen Jahren als Pressesprecherin den Genderstern verwendet habe, gab es auch irritierte Rückmeldungen. Eine Reaktion war, das würde sich nie durchsetzen, das hat es aber in Teilen durchaus.
Hinter Ihnen liegen drei Jahre Oppositionsarbeit in Berlin. Was haben Sie für die Bremer und Bremerhavener erreicht?
Zu vielen Themen habe ich unsere Bremer und Bremerhavener Position vermittelt. Oft, wenn es um soziale Themen und Verteilungsgerechtigkeit geht. Eine gerechte Vermögensbesteuerung, die ja den Ländern zugutekommt, halte ich für sehr relevant und lasse da nicht locker. Mein Fachthema Gleichstellungspolitik ist für Bremen und Bremerhaven allein deshalb wichtig, weil bei uns überdurchschnittlich viele Frauen in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Da braucht es einen Umbau des Arbeitsmarktes, etwa indem Minijobs durch sozialversicherungspflichtige Jobs ersetzt werden. Dafür müssen wir weiter Druck machen. Auch was die Care-Arbeit, also das ganze Kümmern im familiären Umfeld, angeht: Wenn diese Arbeit unterbewertet bleibt, bleibt es auch bei dem uralten Modell, dass Frauen eher die schlechter bezahlten Jobs machen und ohne Ausgleich und Anerkennung die Pflege von Angehörigen übernehmen. Die Bekämpfung von Altersarmut hängt von diesen Fragen ab.
Macht es Sie manchmal mürbe, als Oppositionspolitikerin viel zu erklären, aber wenig bewegen zu können?
An Realitäten orientierte Oppositionsarbeit zu machen ist nicht nur notwendig, sondern auch produktiv. Das ist keine undankbare Aufgabe, im Gegenteil. Wir haben als Linke eine Funktion und bringen wichtige Themen und Forderungen voran, die ohne uns im Parlament gar nicht vorkämen. Ob das Mindestlohn oder die Entschädigung von Menschen betrifft, die inter- oder transgeschlechtlichen Zwangsoperationen ausgesetzt waren.
Sie kandidieren auch für den nächsten Bundestag. Wenn es mit Ihrem Wiedereinzug nicht klappt – was plant die Journalistin Doris Achelwilm für ihre berufliche Zukunft?
Das ist eine Frage, die ich angehen würde, wenn es soweit wäre. Aber ich kann mir kein Leben ohne die Politik vorstellen. Ich bin mit dem, was ich angefangen habe, überhaupt noch nicht fertig. Und schon deshalb gibt es immer Ebenen, über die ich mich politisch einbringen kann. Langweilig wird mir nie. Jetzt ist das Ziel, dass ich wieder in den Bundestag komme. Mit einer ersten Legislatur hast du deine Themen und Marken gerade erst gesetzt. Ich will mitwirken und sehen, dass sie politisch umgesetzt werden.
Das Gespräch führte Anja Maier.
Doris Achelwilm (44) ist Bundestagabgeordnete für Die Linke. Zuvor war sie Sprecherin des Bremer Landesverbandes. Im Parlament ist Achelwilm Sprecherin ihrer Fraktion für Gleichstellung, Medienpolitik und Queerpolitik. Sie kandidiert 2021 erneut für den Bundestag.