Es gibt Schauspieler, deren Erfolg vor allem darauf beruht, dass sie in ihren Rollen in erster Linie einfach nur sich selbst spielen. Olaf Scholz hat an diesem Sonntagmorgen eine Rolle übernommen, die dem nüchternen Hamburger sehr liegt. Er gibt bei der Verkündung des Ergebnisses des SPD-Mitgliedervotums den Notar, der keine Regung zeigt. Den Mann, der einfach nur ein Ergebnis beglaubigt, ohne es zu bejubeln. „Die Mitglieder der SPD sind mit sehr großer Mehrheit dem Vorschlag des SPD-Parteivorstandes gefolgt“, sagt der kommissarische SPD-Vorsitzende Scholz im Willy-Brandt-Haus in Berlin. „Wir haben jetzt Klarheit“, ergänzt er. „Die SPD wird in die nächste Bundesregierung eintreten.“ Die Sozialdemokratische Partei habe sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, vielmehr hätten die Mitglieder umfangreich debattiert.

Scholz trägt als das mit durchgehend unbetonter Stimme vor – fast so, als würde er tatsächlich vor Klienten noch einmal den Inhalt eines Vertragstextes herunterrattern, bevor es zur Unterzeichnung geht. Der Hamburger Bürgermeister gönnt sich jetzt kein einziges Lächeln. Und das, obwohl Scholz jetzt noch einmal einen echten Karrieresprung machen und Vize-Kanzler in der Großen Koalition werden kann. Jetzt bloß nicht triumphieren, wird Scholz sich selbst als Maßgabe für diesen Moment gesetzt haben. Jetzt bloß nichts tun, was die ohnehin gespaltene SPD auseinanderreißen könnte. Scholz‘ eingefrorene Mimik ist so gesehen nur Planübererfüllung.
Dabei gibt es keinen Zweifel, dass Scholz und der designierten SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles Felsbrocken von den Herzen gefallen sein müssen. Mehr als 460 000 SPD-Mitglieder waren zur Stimmabgabe aufgerufen, die Wahlbeteiligung betrug 78 Prozent. Die Zustimmung zur Großen Koalition liegt bei 66 Prozent: Das sind zwar weniger Ja-Stimmen als beim Mitgliedervotum vor vier Jahren, aber mehr, als viele in der SPD-Führung nach chaotischen Wochen durch den dramatischen Rückzug von Martin Schulz und heftigen Debatten auf Mitgliederversammlungen erwartet hatten.
Furcht vor Neuwahlen
Unter rationalen Gesichtspunkten – davon waren die meisten in der SPD-Führung überzeugt – mussten die Mitglieder doch für die Große Koalition stimmen. Nicht nur, weil mit der Union einiges an sozialdemokratischer Politik vereinbart worden ist. Sondern auch, weil der SPD bei schnellen Neuwahlen ein katastrophales Ergebnis gedroht hätte, vielleicht sogar ein Ergebnis, mit dem sie hinter der AfD gelegen hätte. Aber was, wenn Emotionales den Ausschlag gegeben hätte, der blanke Widerwille, noch einmal Juniorpartner unter Merkel zu sein?
Dass es in der Partei eine explosive Stimmung gibt, wusste jeder, der in den Wochen vor dem Votum in einer Versammlung war. Es war immer wieder Enttäuschung zu spüren: darüber, dass die SPD-Spitze jetzt wieder mit der Union regieren wollte. Darüber, dass sich in den Verhandlungen mit der Union nicht mehr beim Familiennachzug für Flüchtlinge durchsetzen ließ. Aber auch über die vielen Kehrtwenden der SPD-Spitze in den vergangenen Monaten, insbesondere jene des mittlerweile zurückgetretenen Parteichefs Martin Schulz.
Sie müssen also in der SPD-Spitze zumindest sehr angespannt gewesen sein, als am späten Sonnabendnachmittag der Post-Lastwagen mit den Briefen zum Mitgliedervotum am Willy-Brandt-Haus ankam. Es herrschte Eiseskälte. Und die Briefe – in gestapelten Kästen verpackt – wurden schnell in die Parteizentrale verbracht. Dort haben mehr als 100 Freiwillige wie Felix Wille die Stimmen dann ausgezählt. Der 19-Jährige aus Neubrandenburg erzählt, dass alles ziemlich glatt verlaufen sei. Bis auf ein Problem: Die SPD habe zwar vorbildlich mit Currywurst und vegetarischer Lasagne für die Helfer gesorgt.
Aber zwischendrin habe es einen Engpass an Club Mate gegeben, also zu wenig von jenem Kaltgetränk, das nächtliche Partybesucher wegen des hohen Koffeingehaltes besonders schätzen. Na ja, Kaffee war zum Glück jederzeit da. „Beim Auszählen habe ich natürlich irgendwann ein Gefühl dafür bekommen, wohin die Reise geht – auch wenn ich nicht das gesamte Ergebnis kannte“, sagt Wille. Vorzeitig verraten konnte er aber nichts. Die Helfer mussten ihre Handys abgeben.
Jusos sind mehrheitlich enttäuscht
Wille ist Chef des Juso-Kreisverbandes Mecklenburgische Seenplatte und Gegner der Großen Koalition. Die SPD-Führung hat Wert darauf gelegt, dass Gegner und Befürworter gemeinsam auszählen – auch damit es hinterher nicht zu Unmut kommt. Der 19-Jährige sagt, er sei natürlich nicht begeistert vom Ergebnis. „Ich bin aber auch stolz darauf, dass die SPD die Frage basisdemokratisch entschieden hat.“ Juso-Chef Kevin Kühnert, Kopf der Gegner einer Großen Koalition, gab sein Statement nach der Pressekonferenz von Scholz und Nietan ab – nicht im, sondern vor dem Willy-Brandt-Haus. Er trug einen dicken schwarzen Schal um den Hals, als er sagte: „Bei mir und vielen Jusos überwiegt heute die Enttäuschung.“ Aber selbstverständlich akzeptiere er das Ergebnis. „Wir sind keine schlechten Verlierer.“
Weder Scholz und Nahles noch Kühnert wissen, wie viele SPD-Mitglieder nur zähneknirschend für die Große Koalition gestimmt haben, weil sie Angst vorm Absturz der Partei in Neuwahlen hatten. Klar ist: Eine ganze Reihe Sozialdemokraten dürften so gedacht haben. Dennoch hätten die Jusos mit einem knapperen Ergebnis im Mitgliederentscheid sicher mehr Einfluss gehabt, wenn es in den nächsten zwei Jahren um die inhaltliche, organisatorische und auch personelle Erneuerung der Partei geht.
Nahles und Scholz haben durch das klare Ergebnis im Mitgliederentscheid jetzt erst mal etwas mehr Luft, um sich als neues Führungsduo zu behaupten. Die nächste Bewährungsprobe wartet allerdings bereits: die Vergabe der sechs Ministerposten, die der SPD zufallen. Bleibt Sigmar Gabriel Außenminister oder schicken die beiden den in der Bevölkerung beliebten Politiker in die Wüste, weil sie ihn für einen schlechten Teamspieler halten? Wer kann die neuen Bundesländer im Kabinett vertreten? Und: Wie lässt sich die Mannschaft am Ende als Signal der Erneuerung verkaufen? Als Nahles am Sonntag nach der Verkündung des Mitgliedervotums vor dem Willy-Brandt-Haus gefragt wurde, wann es das Personaltableau der SPD gebe, antwortete sie: „Bald.“ Noch in dieser Woche oder erst am nächsten Montag? „Bald.“ Dann rief Nahles: „Wo ist mein Auto, Leute?“ Sie hatte es jetzt eilig, hier wegzukommen.