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Christian Lindner im Interview "Freiheit, Wirtschaft und Klimaschutz versöhnen"

FDP-Chef Christian Linder war zu Gast in der Redaktion des WESER-KURIER. Wir sprachen mit ihm über Rot-Grün-Rot, einen Skandal in der Bildungspolitik und über Markus Söder.
18.09.2021, 10:18 Uhr
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Von Norbert Holst

Es ist ein ziemlich verrückter Wahlkampf, den wir momentan erleben. Was hat Sie denn am meisten überrascht?

Christian Lindner: Die inhaltliche Unschärfe bei der CDU – mal ist sie für eine Steuerentlastung, dann offen für eine Steuererhöhung, mal ist für die Schuldenbremse, dann mal für eine Aufweichung der Schuldenbremse. Diese Schlangenlinie begründet vielleicht auch zum Teil die augenblickliche Schwäche der Union. Der FDP fällt nun eine große Verantwortung zu, weil eine Position der Mitte jetzt vor allem von der FDP markiert wird. Das heißt: keine Steuererhöhung, sondern lieber Entlastung, keine Aufweichung der Schuldenbremse, sondern wieder Solidität.

Sie buhlen gegenwärtig offensiv um potenzielle Wähler der Union und verweisen auf Armin Laschets Sofortprogramm. Tenor: Man könne ja gleich das Original, also die FDP, wählen.

Die CDU und Armin Laschet lassen sich ja inspirieren von Projekten der FDP-Kabinettsmitglieder in Nordrhein-Westfalen. Da ist ja auch nichts Schlechtes dran. Wir machen nur auf dies aufmerksam: Wer wirklich ein Programm für wirtschaftliche Vernunft und Stärkung des Aufschwungs will, kann auch das Original FDP wählen. Wer mit uns der Überzeugung ist, dass wir stärker über das Erwirtschaften des Wohlstands statt nur über Verteilung sprechen sollten, dem machen wir ein Angebot. Wir wenden wir uns genauso an bürgerliche Wähler der Grünen oder Wähler, die zwischen Grünen und FDP unentschieden sind. Denen sagen wir: Klimaschutz gibt es auch bei uns auch, aber mit Technik und Erfindergeist statt Verboten. Und bei der Union sagen wir: Wem in der Wirtschaftspolitik nicht klar genug ist, wofür die CDU steht, für den ist die FDP eine klare Option.

Die Option Schwarz-Gelb ist mausetot?

Momentan gibt es dafür keine Mehrheit, voraussichtlich ja auch nicht für Schwarz-Grün, sodass es Bündnisse mit mehr Partnern braucht. Da treten wir auf der Bundesebene in eine andere Phase, vielleicht gar in eine andere politische Landschaft ein. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. 

Von den möglichen Dreier-Koalitionen wäre Ihnen die Jamaika-Option am liebsten?

Die inhaltlichen Übereinstimmungen mit der Union sind nach wie vor am größten. Auf der anderen Seite stehen SPD und Grüne in vielem der Linkspartei nah. Das kann hier in Bremen ja niemanden überraschen. Denn in Bremen haben sich nach der Bürgerschaftswahl 2019 die Grünen gegen eine Koalition mit dem Wahlgewinner CDU entschieden, um den Wahlverlierer SPD im höchsten Amt zu halten und sogar die Linkspartei mit in die Landesregierung zu nehmen. Das ist also eine reale Option – auch auf Bundesebene.

Aber mir fehlt bei Jamaika die Fantasie, wie die Vorstellungen von FDP und Grünen gerade beim Klimaschutz unter einen Hut gebracht werden sollten?

Immerhin haben beide Parteien das Ziel, die Klimaziele in Deutschland einhalten zu wollen. Beim Ziel sind wir einer Meinung.

Aber der Weg dorthin ist doch sehr unterschiedlich?

Tatsächlich, ja. Wir glauben an Wasserstoff-Windparks vor der Küste, den Import von synthetischen, sauberen Kraftstoffen für den Verbrennungsmotor, schwimmende Solarkraftwerke auf Stauseen, Speicherung von CO2 im Wald und im Humusboden. Wir glauben eher an technologische Lösungen, während die Grünen in sehr hohem Maße auch auf Verzicht und Verbot setzen. Wir glauben nicht, dass das ein Vorbild für die Welt sein kann. Deutschland sollte vielmehr erreichen, dass Freiheit, wirtschaftliche Perspektive und Klimaschutz versöhnt werden – nur dann wird die Welt uns folgen.

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Eine Alternative zu Jamaika wäre die Ampel-Koalition. CSU-Chef Markus Söder fordert von der FDP eine klare Absage an diese Option. Warum machen Sie das  nicht einfach?

Die Aufforderung von Markus Söder ist wirklich nicht frei von Ironie. 2017 hat die FDP eine Linksverschiebung der deutschen Politik verhindert, weil wir zu einer Jamaika-Koalition unter Frau Merkel nein gesagt haben. Damals war insbesondere die CSU bereit, den Grünen in der Flüchtlings-, in der Energie- und in der Wirtschaftspolitik geradezu eine Richtlinienkompetenz zu übertragen. Das wäre eine Koalition links der Mitte gewesen – mit dem Segen der CDU und CSU. Wir haben damals klar gesagt: Nein, dafür stehen wir nicht zur Verfügung. Und jetzt will ausgerechnet die nach links sperrangelweit offene Union von uns, dass wir irgendwas ausschließen. Obwohl wir ja schon unter Beweis gestellt haben, dass wir uns an unseren Prinzipien orientieren.

Gibt es auch dieses Mal rote Linien, wo sie sagen würden: Das machen wir auf gar keinen Fall mit?

Es gibt zwei Leitplanken. Die eine Leitplanke ist der Verzicht auf höhere Steuern. Einzige Ausnahme sind Google, Apple, Amazon und Facebook, die von der Pandemie profitiert haben und endlich einen fairen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten müssen. Darüber hinaus sollten wir aber nach einem Jahrzehnt der steuerlichen Belastung eher entlasten. Das ist auch die richtige Antwort auf eine Wirtschaftskrise, nach der die Betriebe wieder neue Reserven aufbauen müssen. Die andere Leitplanke ist angesichts von hohen Defiziten in Deutschland, sehr hohen Schulden in Europa und wachsenden Inflationsrisiken das Beibehalten der Schuldenbremse. Weil die Schuldenbremse die Selbstdisziplinierung der Politik war, nicht unfinanzierbare Versprechungen zu Lasten der Generation der Enkel zu machen. Innerhalb dieser Leitplanken kann man miteinander ringen. Da wollen die einen eher eine Umverteilung, wir wollen eher Bildungsinvestitionen; die einen wollen eher eine Subvention für Lastenfahrräder, wir sind für ein Abschreibungsprogramm, mit dem die Betriebe in Klimaschutz und Digitalisierung investieren können. Und diese Investitionen werden dann steuerlich berücksichtigt.

Aber wie soll das nach dem durch Corona angehäuften Schuldenberg klappen, einerseits Steuererhöhungen auszuschließen und gleichzeitig an der Schuldenbremse festzuhalten?

Das geht nur durch eine Wirtschaft, die wieder stärker wächst, die auf den Weltmärkten erfolgreich ist und die deshalb hier in Deutschland starke Steuern zahlen kann. Deutschland wächst ja gegenwärtig nur mit 3,4 Prozent aus der Krise heraus, die USA und China hingegen mit sieben beziehungsweise acht Prozent, Italien mit über vier. Das zeigt: Wir müssen dringend etwas tun, um mehr wirtschaftliche Dynamik zu erreichen. Der erste wichtige Schritt dahin könnte das erwähnte Abschreibungsprogramm sein.

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In der Rentenpolitik vertritt die FDP eine deutlich andere Position als die mit ihr konkurrierenden Parteien. Wie sieht Ihr Modell für die Vorsorge aus?

Wir wollen innerhalb der Säule der gesetzlichen Rente, also nicht als private Vorsorge, für die Zukunft etwas ansparen. Im Moment fließt das Geld, das in das System eingezahlt wird, sofort wieder raus. Wir wollen jetzt, also bevor die Babyboomer-Generation in das Ruhestandsalter eintritt, damit beginnen, einen Kapitalstock aufzubauen. Wir nennen das gesetzliche Aktienrente nach dem Vorbild von Schweden. Wir haben jetzt noch ein Zeitfenster dafür. Wenn wir dieses Zeitfenster nicht nutzen, dann wird rein rechnerisch etwas verändert werden müssen: Entweder muss man länger arbeiten, die Beiträge werden erhöht, das Rentenniveau sinkt oder es wird ein noch höherer Zuschuss aus dem Staatshaushalt fällig. 

Wie wichtig ist das flexible Renteneintrittsalter, das die FDP fordert?

Ich halte das für zeitgemäß, weil sich die Lebensläufe verändern. Die Menschen haben ganz andere Anforderungen, ganz unterschiedliche Bedürfnisse, eine verschiedene familiäre Situation. Ab dem 60. Geburtstag soll jeder individuell entscheiden, wann sie oder er in das Ruhestandsalter eintritt. Dann erhält man die individuell versicherungsmathematisch errechnete Rente. Aber es soll dann keine Bürokratie mehr geben, falls man doch neben der Rente noch arbeiten will. Gegenwärtig werden zusätzliche Arbeitseinkünfte ja mit der Rente verrechnet. Nach unserem Modell wäre man frei. Wer länger arbeiten will, zum Beispiel in Teilzeit bis Ende 60, dann soll sie oder er das auch machen dürfen. Wir haben so viele vitale und erfahrene Beschäftigte, die sich vielleicht sagen: Ich kann in der Ausbildung, in der Planung oder in der Supervision etwas machen.

Hier in Bremen ist die Bildungspolitik ein Aufregerthema. In Bremen, aber auch in ganz Deutschland, ist ein starker Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der Schulkarriere auffallend. Die Liberalen wollen nun mehr Einfluss des Bundes auf die Bildungspolitik. Soll dieser Einfluss auch inhaltlich sein oder nur in finanzieller Hinsicht gelten?

Der Bund sollte sich auch für Qualität engagieren. Er sollte sich auch für eine Vergleichbarkeit der Standards in Deutschland einsetzen. Vor allem müssen wir von der Weiterbildung der Lehrkräfte, über die Digitalisierung bis hin zum lebensbegleiteten Lernen neue Maßstäbe setzen. Da sehen wir noch einen ganz großen Bedarf. Für uns Liberale ist es ein Skandal, wenn der Zufall der Geburt – auf den man keinen Einfluss hat – das Leben so stark in eine Richtung vorprägt. Das ist eine unerträgliche Vorstellung, weil der Begriff der Freiheit dadurch völlig ins Leere läuft.

Nun gibt es aber auch Bundesländer, die durch einen eigenen Weg eine Vorreiterrolle einnehmen – etwa Bayern mit seinem Computerunterricht und einer verstärkten Berücksichtigung von Wirtschaftsthemen in verschiedenen Fächern.

Ja, da ist Ihnen zuzustimmen. Allein aufgrund der verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes wäre eine reine Bundesschulkompetenz gar nicht möglich. Sie wäre vielleicht auch nicht wünschenswert, weil ein gewisser Ideenwettbewerb und das Eingehen auf regionale Unterschiede auch sinnvoll sind. Wir haben es in Deutschland nur übertrieben. Wir sprachen ja sogar eine Zeit lang von einem Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern. Da ist dann der an sich gute Gedanke der regionalen Unterschiedlichkeit so übersteigert worden, dass er nicht die Qualität förderte, sondern nur noch Sand ins Getriebe brachte.

Am Schluss des Gesprächs möchte ich kurz auf den Anfang des FDP-Wahlprogramms zu sprechen kommen. Dort heißt es im ersten Satz: Wie es ist, darf es nicht bleiben. Aber immerhin schaut das Ausland auf gewissen Politikfeldern neidisch auf uns. Ist denn wirklich alles schlecht in Deutschland?

Wir sollten uns nicht damit zufrieden geben, dass wir uns in einem Mittelmaß gut eingerichtet haben. Sondern unsere Verantwortung – und ich nenne das bewusst Verantwortung – als Nation von Ingenieuren und Technikern muss es ja sein, für das, was als Menschheitsaufgabe vor uns liegt, Pionierarbeit zu leisten. Ich beziehe mich jetzt zum Beispiel auf den Klimaschutz, den wir durch technologischen Fortschritt global voranbringen sollten. 

    Das Gespräch führte Norbert Holst

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