Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Interview mit Sigmar Gabriel "Dann müssen wir eben bezahlen"

Im Interview mit dem WESER-KURIER spricht Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) über die Abkehr der USA von Europa und die Konsequenzen, die sich daraus für den alten Kontinent ergeben.
05.04.2025, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Markus Peters

Um im Bild der Atlantik-Brücke zu bleiben: Müssen wir gerade zur Kenntnis nehmen, dass die USA alle Brücken über den Atlantik abreißen?

Sigmar Gabriel: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben zwei strategische Entscheidungen getroffen: Die eine ist, dass sie nicht mehr globale Ordnungsmacht sein wollen, weil sie nicht glauben, dass sie gleichzeitig führende Wirtschafts- und Militärmacht und globale Ordnungsmacht sein können. Die USA sehen sich im Indopazifik durch China so herausgefordert, dass sie darauf ihre Kräfte konzentrieren möchten. Diese Erkenntnis ist schon seit Längerem gereift und nicht erst durch Donald Trump in Gang gesetzt worden. Denken Sie nur an Obamas Satz vom „pivot to Asia“ (Scharnier nach Asien). Es gibt eine breite Übereinstimmung in den USA zwischen allen Parteien und Wählergruppen, sich zurückzuziehen aus den vielfältigen, auch militärischen Einflussnahmen in der Welt. Die zweite strategische Entscheidung macht uns derzeit viel mehr Sorgen, weil sie für uns völlig neu ist: Amerika will keine europäische Macht mehr sein. Das waren sie infolge des Zweiten Weltkrieges und fühlten sich für Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent verantwortlich. Das ist jetzt nach gut 80 Jahren vorbei.

Unterscheidet sich das nicht fundamental von der Weltordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa etabliert hat?

Nach 1945 haben die Amerikaner die Entscheidung getroffen, zur europäischen Macht zu werden. Nicht zuletzt weil sie keine Lust hatten, zum dritten Mal ihre Söhne in einen Weltkrieg nach Europa schicken zu müssen. Die Amerikaner stehen mit dem Marshallplan an der Wiege der Europäischen Union und haben die Nato ins Leben gerufen. Das sind die beiden Institutionen, mit der das Ziel „America in, Russia out, Germany down“ erreicht werden sollte. Diese strategische Entscheidung revidieren die Amerikaner jetzt und sehen in Europa einen lästigen Klotz am Bein, offenbar sogar einen echten Gegner. In jedem Fall wollen sie ihre Verpflichtungen im Kampf der Ukraine gegen den Angriffskrieg Russland nicht mehr leisten.

Lesen Sie auch

Welche Konsequenzen hat das für uns Europäer. Haben wir uns zu lange auf die USA verlassen?

Das ist auf der einen Seite richtig, denn die Kritik an einem zu geringen Verteidigungsbeitrag Europas ist schon deutlich vor der ersten Präsidentschaft Trumps immer stärker geworden. Auf der anderen Seite waren die Amerikaner jahrzehntelang der festen Überzeugung, dass es besser ist, wenn sie den Großteil der militärischen Verantwortung tragen. Schlicht und ergreifend, weil sie nicht wussten, was die Europäer tun würden, wenn sie nicht mehr da sind. Wir sind jetzt dazu gezwungen, wieder aus der Bundeswehr – um bei uns Deutschen zu bleiben – eine echte Armee zu machen, die zur Territorialverteidigung fähig ist. Davon sind wir aber mindestens zehn Jahre entfernt. Insofern können wir auch jetzt nicht auf die Vereinigten Staaten verzichten. Ich würde daher dringend raten, keine aktiven Beiträge dazu zu leisten, dass Amerika sich von uns abwendet. Wir sollten versuchen, die Vereinigten Staaten so gut es geht zu halten.

Steckt hinter dem Rückzug der Amerikaner auch ein Stück weit das Vertrauen, dass Europa die Dinge in eine richtige Richtung bewegt?

So positiv kann man es auch drehen, aber ich glaube, so ist es nicht gemeint. Aus Sicht der jetzigen US-Administration sind wir als Europäer ein Klotz am Bein. Donald Trump hält nichts von Allianzen und Alliierten, sondern er meint, dass „die großen drei“ – China, Russland und USA – jeweils „Deals“ miteinander machen sollen – und der Rest der kleineren Staaten muss halt sehen, wie sie klarkommen. Trump ist der Überzeugung, dass es so etwas wie eine internationale Gemeinschaft und ein „Rule of Law“ (Herrschaft des Rechts) nicht gibt. Aus seiner Sicht ersetzt das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts. Die Europäische Union gründet auf dem Gegenteil, nämlich auf der Stärke des Rechts. Insofern stehen wir als Europäer in der Frage, wie in der Welt miteinander umgegangen werden soll, auf einer völlig anderen Seite als die jetzige Regierung der Vereinigten Staaten. Das dürfte ihn nicht nur ärgern, sondern er wird versuchen, Europa zu spalten und kleinzumachen.

Die europäischen Nato-Partner weisen Experten zufolge erhebliche Fähigkeitslücken auf, insbesondere im Bereich Aufklärung, Kampfjets oder bei Mittelstreckenraketen, die nur in einem Verteidigungsbündnis mit den USA zu schließen sind. Was muss Europa tun, um diese Fähigkeiten innerhalb der nächsten zehn Jahre aufzubauen?

Zuallererst müssen wir mit den Amerikanern darüber verhandeln, dass die Fähigkeiten nicht von heute auf morgen verschwinden. Wenn wir dafür bezahlen müssen, dann müssen wir eben dafür bezahlen. Es scheint Trumps ­Vorstellung zu sein, dass man Sicherheit gegen Geld bekommt. Ich glaube nicht, dass wir einem möglichen Deal zwischen Wladimir Putin und Donald Trump in der Ukraine etwas Wirk­sames entgegenzusetzen haben. Die Fähigkeiten, die wir dafür bräuchten, werden wir nicht innerhalb kürzester Zeit herbeiführen können. Das wird eine Zeit dauern. Mindestens in dieser Übergangszeit brauchen wir die USA. Außerdem wirkt natürlich alles, was wir Europäer in der Nato und gemeinsam mit den Vereinigten Staaten können, weit abschreckender als jede denkbare neue Struktur.

Auf der anderen Seite müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die USA zunehmend imperiale Vormachtsansprüche erhebt, zum Beispiel in der Debatte über Grönland und Kanada, denen quasi das Selbstbestimmungsrecht abgesprochen wird.

Das geht natürlich gar nicht zusammen, sondern da muss man als Europa dagegenhalten. Ich würde den Ka­nadiern anbieten, Mitglied der Eu­ropäischen Union zu werden. Das wäre wahrscheinlich das Sinnvollste. Vielleicht nicht voll integriert wie alle ­anderen, aber vielleicht teilweise. ­Ohnehin ist Kanada europäischer als manches Mitglied der Europäischen Union.

Was soll Europa angesichts dieser Drohungen aus Washington tun?

Es wird nichts anderes übrig bleiben, als darüber zu verhandeln. Was sollen wir sonst tun? Die Amerikaner zu unserem Feind erklären? Amerika steht uns selbst mit Präsident Trump noch deutlich näher als Russland oder China. Wir können nur so schnell wie möglich unsere eigenen Fähigkeiten aufbauen und auf der anderen Seite mit Amerika verhandeln. Übrigens Europa ist keineswegs überall der Überzeugung, dass man auf die USA verzichten kann. Polen und andere osteuropäische Länder haben ihre Zweifel an der deutschen und französischen Bereitschaft, im Zweifel die Freiheit Polens mit dem Leben ihrer Soldaten zu verteidigen. Und sie vertrauen da wesentlich mehr auf die USA. Meine Sorge ist eher, dass wir - wenn wir nicht aufpassen - zu einer Weiterverbreitung von Nuklearwaffen kommen, die wir uns überhaupt nicht wünschen können. Wenn die USA den nuklearen Schutzschild anzweifeln, dann werden Länder wie Polen, aber auch die Türkei als Erste bereit sein, bei sich Atomwaffen zu stationieren.

Lesen Sie auch

Das wäre ein besorgniserregendes Szenario ...

Das ist ein bisschen das Verrückte bei Trump. Er sagt, er wolle, nachdem einem Deal mit Putin als Nächstes in Abrüstungsgespräche auf der nuklearen Ebene eintreten. Wenn er aber den nuklearen Schutzschirm der Nato infrage stellt, wird er genau das Gegenteil erreichen. Dann werden mehr Staaten versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen. Das ist alles eine mehr als komplizierte Situation. Aber was anderes sollen die Europäer in Sachen Ukraine und Kontinentalverteidigung tun, als sich zu einer Koalition der Willigen zusammenzufinden? Innerhalb der EU dauert das alles viel zu lange. Es gibt auch Gegner einer solchen Entwicklung in der EU, aber auf die können wir nicht warten. Also müssen sich die europäischen Partner der Nato plus Kanada zusammenschließen und die Fähigkeitslücken so schnell wie möglich schließen, aber in der Zwischenzeit alles dafür tun, dass Amerika nicht vollständig verschwindet. Mehr können wir nicht machen.

Wir müssen also die Nato in dieser Form so lang wie möglich am Leben halten?

Wir sollten schon deshalb daran ein Interesse haben, weil wir sonst auch noch die Kommandostrukturen neu aufbauen müssten. Damit hätten wir noch länger zu tun. Wir haben bereits eine europäische Verteidigungsstruktur mit der Nato. Es macht Sinn, diese zu nutzen.

Lesen Sie auch

In dieser Woche hat US-Präsident Donald Trump weitreichende Zölle angekündigt. Damit befindet er sich im Widerspruch zur Politik Ronald Reagans, der Zölle stets als ein innovationsfeindliches Instrument abgelehnt und stattdessen den freien Welthandel propagiert hat.

Anders als Ronald Reagan hält Trump die Weltwirtschaft für ein Nullsummenspiel, bei dem es immer Gewinner und Verlierer gibt. Die Vorstellung, dass durch einen offenen Welthandel ein Mehrwert entsteht, der allen zugutekommt, ist eine Vorstellung, die die Republikanische Partei unter Ronald Reagan hatte. Die gibt es nicht mehr. Trumps Republikanische Partei will für den Zugang zu dem großen Markt der USA Preise verlangen und bei uns Europäer vermutlich sogar die Sicherheitsgarantien der Nato für den Fall infrage stellen, wenn wir seiner Handelspolitik nicht folgen. Er versucht gerade, die gesamte Weltwirtschaft auf den Kopf zu stellen. Ich bin eigentlich sicher, dass er das nicht schafft. Aber bis die USA das erkennen, wird viel Schaden in der Welt angerichtet worden sein.

Bringen die Zölle nicht auch steigende Preise und Inflation in den USA?

Das kann eigentlich nicht in Trumps Interesse liegen. Außerdem antworten andere Teile der Welt ebenfalls mit Handelshemmnissen. Das ist wiederum schlecht für die Exportwirtschaft der USA. Aber Trump ist Trump, er hält Amerika für stark genug, diesen Konflikt durchzustehen. Er gibt sogar zu, dass es am Anfang schwierig werden könnte. Ich glaube, dass das alles den Welthandel nur ins Chaos stürzt und am Ende auch den USA nicht hilft. Aber vermutlich müssen erst die Realitäten die amerikanische Politik einholen, bevor sie sich ändern wird.

Liegt ein Teil des Problems nicht darin, das zum Beispiel amerikanische Autos bis auf wenige Ausnahmen in Europa kaum verkäuflich sind, weil sie zu viel Sprit verbrauchen und daher kaum ökonomisch sind?

Es muss irgendeinen Grund haben, warum die EU einen zehnprozentigen Einfuhrzoll auf amerikanische Fahrzeuge hat, die Amerikaner bisher aber nur 2,5 Prozent auf die Einfuhr europäischer Fahrzeuge erhoben haben. Da hat Trump recht, wenn er sagt, dass das unfair ist. Jetzt erhöht er die Zölle auf den Import von europäischen Fahrzeugen. Mir wäre es lieber, Europa würde ihm anbieten, auf beiden Seiten die Zölle auf null zu senken. Dann würden wir sehen, ob sie mit ihrer Prognose über die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit amerikanischer Fahrzeuge recht haben oder nicht. Jetzt verzerren die Zölle in jeder Hinsicht.

Lesen Sie auch

Haben die Beispiele zum Beispiel von Kanada und Mexiko nicht gezeigt, wie man darauf reagieren kann? Die haben ihrerseits Gegenzölle angekündigt, aber auch Gesprächsbereitschaft signalisiert.

Ich würde jetzt nicht einfach die Flinte ins Korn werfen, sondern das tun, was Mexiko, Kanada und andere auch machen – sich wehren, aber zugleich auch verhandlungsbereit zu sein. Das finde ich auch das Gute an dem Angebot des britischen Premierministers Keir Starmer bei der Unterstützung der Ukraine: Da finden sich alle europäischen NATO-Partner und Kanada zusammen und wollen nicht nur die Ukraine unterstützen, sondern auch zusammen mit Trump und Putin an den Verhandlungstisch.

Lesen Sie auch

Aber muss Europa bei Gegenmaßnahmen nicht auch die Bereiche stärker ins Visier nehmen, in denen die Amerikaner traditionell stärker sind, zum Beispiel in der Tech-Branche mit Apple, Google, Microsoft oder Netflix?

Das wird Europa ganz gewiss auch tun. Und die Antwort Europas muss die amerikanische Wirtschaft oder Teile davon auch hart treffen. Aber gleichzeitig müssen wir doch anbieten, dass wir als transatlantische Alliierte nach wie vor für eine Verhandlungslösung sind. Ein bisschen geht es nach dem Motto: „Preparing for the worst – hoping for the best.“ (Auf das Schlechteste vorbereiten, das beste hoffen). Wenn wir uns dauerhaft und nur auf ein „Tit for Tat“-Spielchen (Wie Du mir, so ich Dir) einlassen, werden wir verlieren. Amerika ist zu zehn Prozent vom Export abhängig, wir zu 50 Prozent. Übrigens gibt es ein Beispiel in der Geschichte: Japan hat mal versucht, eine staatliche Industriepolitik zu machen. Die Antwort der Europäer war nicht das Gleiche zu tun, sondern den europäischen Binnenmarkt zu schaffen, weil der eine höhere Attraktivität hatte. Gewonnen haben wir, nicht die Japaner. Deutschland ist im großen Umfang vom Export abhängig. Wir können kein Interesse an einem riesigen Handelskrieg haben.

Lesen Sie auch

Auch gesellschaftspolitisch liegen zwischen Europa und die USA weit auseinander. Wir haben zuletzt erlebt, dass Stimmen quasi gekauft werden sollten, um einen konservativen Richter ins Amt zu hieven. Müssen wir uns an solche Muster gewöhnen?

Ich würde dringend raten, dass wir uns daran nicht gewöhnen, sondern dass wir es als das kennzeichnen, was es ist - nämlich als ein Versuch von Bestechung. Nichts anderes steckt dahinter. Ob die amerikanische Demokratie vital genug ist, diese Angriffe abzuwehren, werden wir erleben.

Was könnte da entscheidend sein?

Wenn es in irgendeinem Konfliktfalle zu einem Urteilsspruch des Supreme Court (Oberster Gerichtshof) kommt, der nicht die Politik des Präsidenten unterstützt, dann werden wir sehen, ob sich die Trump-Administration daran hält oder ob sie versucht, das Gericht auszuhebeln. Bislang sieht es eher so aus, als ob die Richter, die teilweise von Trump nominiert worden sind, ihre Aufgabe sehr ernst nehmen und dass die Gewaltenteilung funktioniert.

Wird das so bleiben?

Ich habe auch keine Glaskugel, aber am Ende wird es auf einen solchen Konfliktfall hinauslaufen. Dann werden wir sehen, ob die USA eine stabile Demokratie bleibt oder ob es Trump oder die mit ihm verbündeten Milliardäre wie Peter Thiel und Elon Musk schaffen, die Institutionen der amerikanischen Demokratie zu schleifen. Diese Leute halte ich für weit gefährlicher. Sie versuchen, die amerikanische Demokratie abzuschaffen und durch ihre Vorstellung von einer Regierung in der Art eines römischen Senats zu ersetzen. Wobei sie natürlich zu den Senatoren gehören und die normalen Bürger nicht abstimmen dürfen. Wir werden sehen, ob sich Thiel, Musk und Co. mit ihren verrückten Vorstellungen durchsetzen oder ob die Institutionen der amerikanischen Demokratie stabil genug sind, diese Leute abzuwehren.

Haben Sie Hoffnung, dass es gelingt?

Die amerikanische Demokratie ist 250 Jahre alt, unsere Demokratie 75 Jahre. Ich habe immer ein wenig Hemmungen, dass wir, die die Demokratie von den Amerikanern geschenkt bekommen haben, jetzt als Oberlehrer auftreten. Ich glaube schon, dass die amerikanische Demokratie auch diesen Sturm überleben wird - aber ich gebe zu, gewiss ist das nicht!

Das Gespräch führte Markus Peters.

Zur Person

Sigmar Gabriel (65)

ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Das Netzwerk setzt sich für die Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit zwischen Europa und der USA sowie Kanada ein. Zuvor war der SPD-Politiker unter anderem Bundeswirtschaftsminister (2013-2017) und Außenminister (2017-2018).

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)