Die von der großen Koalition vereinbarte Reform des Wahlrechts stößt bei der Opposition auf deutliche Kritik. Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann sagte am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur, der am Tag zuvor geschnürte Kompromiss der Koalition in zwei Reformschritten mit einer Übergangslösung für die Wahl 2021 sei ein „Armutszeugnis“. Ihr FDP-Kollege Marco Buschmann argumentierte ähnlich. „Die Beschlüsse der GroKo beseitigen die Gefahr eines XXL-Bundestags nicht“, sagte er der dpa.
Die CSU habe sich mit ihrem Ziel durchgesetzt, dass sich bei den Wahlkreisen nichts ändere. Die CDU bekommt zur Belohnung einen Bonus von drei unausgeglichenen Überhangmandaten. „Und der Rest dient nur der Vernebelung.“ Hauptverlierer sei das Ansehen der Politik, kritsierte Buschmann. Haßelmann sagte: „Diese Übergangslösung ist unambitioniert und kraftlos und wird ein Anwachsen des Bundestages nicht verhindern.“ Der Chef der Linksfraktion, Dietmar Bartsch, sagte der „Welt“: „Insgesamt hat diese Reform nicht den Namen verdient. Es ist nicht mal ein Reförmchen.“
Die Reform soll ein weiteres Anwachsen des Bundestags verhindern oder zumindest bremsen. Wegen der komplizierten Mischung aus Verhältniswahlrecht und Direktwahl von Personen im Wahlkreis hat der Bundestag schon jetzt Rekordgröße, nach der kommenden Wahl im Herbst 2021 könnten noch mehr Abgeordnete dazukommen. Linke, FDP und Grüne haben einen eigenen, gemeinsamen Vorschlag und fordern, den Bundestag ohne den sogenannten Fraktionszwang darüber frei abstimmen zu lassen.
Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) zeigten sich erleichtert über den Kompromiss, den die Koalitionsspitzen am Dienstagabend im Kanzleramt ausgehandelt hatten. Kramp-Karrenbauer sagte im ZDF-„Morgenmagazin“: „Es wird einen ersten Dämpfungsschritt geben - insofern ist die Chance, dass der nächste Bundestag auf jeden Fall nicht größer wird als der jetzige, relativ groß.“ Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus zeigte sich im Bayerischen Rundfunk ebenfalls zufrieden, obwohl sich die große Koalition noch nicht auf eine große Reform des Wahlrechts einigen konnte.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verteidigte die geplante Verlängerung des Kurzarbeitergeldes. „Wir haben mit der tiefsten Wirtschaftskrise unserer Generation zu tun und die wird nicht ab dem 1. Januar vorbei sein“, sagte er im Deutschlandfunk. Trotz der prognostizierten Erholung der Wirtschaft im kommenden Jahr brauche es diese „stabile Brücke“, um Arbeitsplätze zu sichern. Sicher sei das sehr kostspielig, doch die Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit wäre wirtschaftlich und gesellschaftlich um ein Vielfaches teurer.
Die Beschlüsse der Spitzen von CDU, CSU und SPD im Überblick
KURZARBEIT: Unternehmen in Deutschland können Jobs in der Corona-Krise weiter durch erleichterte Kurzarbeit absichern. Diese soll von regulär 12 auf bis zu 24 Monate erweitert werden. Die verlängerte Bezugsdauer soll für Betriebe gelten, die bis zum 31. Dezember 2020 Kurzarbeit eingeführt haben. Längstens soll das Kurzarbeitergeld bis zum 31.12.2021 verlängert werden. Damit die Bundesagentur für Arbeit (BA) die Milliardenkosten für Kurzarbeit schultern kann, will die Koalition Steuergeld locker machen - und zwar als Zuschuss und nicht als Darlehen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will die Pläne bereits an diesem Mittwoch ins Bundeskabinett bringen.
Die Sozialversicherungsbeiträge sollen bis 30. Juni 2021 vollständig erstattet werden. Vom 1. Juli 2021 bis höchstens 31. Dezember 2021 sollen für alle Betriebe, die bis zum 30. Juni 2021 Kurzarbeit eingeführt haben, die Sozialversicherungsbeiträge zur Hälfte erstattet werden. Diese hälftige Erstattung kann auf 100 Prozent erhöht werden - aber nur wenn eine Qualifizierung während der Kurzarbeit erfolgt.
Das Kurzarbeitergeld wird weiter auf 70 beziehungsweise 77 Prozent ab dem vierten Monat und auf 80 beziehungsweise 87 Prozent ab dem siebten Monat erhöht. Diese Regeln sollen bis 31. Dezember 2021 für alle verlängert werden, deren Anspruch auf Kurzarbeitergeld bis zum 31. März 2021 entstanden ist. Regulär beträgt das Kurzarbeitergeld 60 Prozent des ausgefallenen Nettolohns, für Berufstätige mit Kindern 67 Prozent.
WAHLRECHT: Ein weiteres Anwachsen des Bundestags bei der Wahl 2021 soll durch eine Dämpfungsmaßnahme verhindert werden soll. Die richtige Reform soll dann erst 2025 greifen. Dazu soll noch in dieser Wahlperiode eine Reformkommission eingesetzt werden. Die Zahl der Wahlkreise soll für die Bundestagswahl 2021 bei 299 belassen und dann 2025 auf 280 verringert werden. Mit 709 Abgeordneten hat der Bundestag schon jetzt ein Rekordausmaß erreicht. Die Normgröße sind 598 Abgeordnete.
Die Koalitionsspitzen standen unter hohem Einigungsdruck angesichts des nächsten Wahltermins im kommenden Jahr. Die Koalitionspartner waren mit völlig unterschiedlichen Konzepten in die Beratungen gegangen. Söder sagte, die Verhandlungen zu dem Punkt hätten am Abend am längsten gedauert - anfangs mit „weniger Wumms und mehr Rumms“. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hatte im Juni bei dem Beschluss über ein milliardenschweres Konjunkturpaket gesagt: „Wir wollen mit Wumms aus der Krise kommen.“
Die Koalition muss nun aber erst einmal auf die Opposition zugehen und versuchen, auch diese einzubinden. Üblicherweise werden Fragen des Wahlrechts mit breiter Mehrheit im Bundestag beschlossen.
KINDERBETREUUNG: Gesetzlich Versicherten stehen in diesem Jahr wegen der Corona-Krise mehr Krankentage zur Betreuung ihrer Kinder zur Verfügung. Für Elternpaare soll das Kinderkrankengeld für jeweils fünf weitere Tage und für Alleinerziehende für zusätzliche zehn Tage gewährt werden. Zur Pflege eines erkrankten Kindes stehen Eltern in der Regel pro Jahr zehn freie Arbeitstage zu. Bei Alleinerziehenden sind es bis zu 20 Tage. Das gilt für alle Kinder unter zwölf Jahren.
KOSTENLOSES MITTAGESSEN: Bei Schul- und Kitaschließungen wegen Corona sollen Kinder ärmerer Eltern weiter kostenloses Mittagessen erhalten können. Die Kinder sollen bis 31. Dezember 2020 mit Mittagessen im Rahmen des Bildungspakets versorgt werden. Wie viele Kinder von der Sonderregelung zuletzt Gebrauch gemacht hatten, geht aus dem Beschlusspapier nicht hervor. Kritiker hatten im Frühjahr bemängelt, dass Lieferungen nach Hause durch einen kommunal anerkannten Anbieter nur schwer umsetzbar seien.
PFLEGE: Wer coronabedingt Angehörige pflegt oder Pflege neu organisieren muss, soll in diesem Jahr bis zu 20 Arbeitstage frei machen können. Das Pflegeunterstützungsgeld kann ebenfalls bis zu 20 Arbeitstage in Anspruch genommen werden.
ÜBERBRÜCKUNGSHILFEN: Staatliche Hilfen für besonders belastete Unternehmen sollen nun bis Ende des Jahres laufen. Das Programm ist bisher bis Ende August befristet. Erstattet werden nach derzeitigem Stand für die Monate Juni bis August fixe Betriebskosten von insgesamt bis zu 150 000 Euro. Für die Zuschüsse hatte der Bund 25 Milliarden Euro eingeplant. Die Auszahlung der Gelder über die Länder aber läuft schleppend, auch weil das Verfahren komplex ist - die Politik will Betrugsfälle wie bei Corona-Soforthilfen verhindern. Die Überbrückungshilfen waren ein wichtiger Baustein des im Juni vereinbarten Konjunkturpakets der Koalition.
INSOLVENZRECHT: Lockerungen im Insolvenzrecht sollen verlängert werden, um in der Corona-Krise eine Pleitewelle zu verhindern. Demnach wird die Regelung über die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht für den Antragsgrund der Überschuldung bis Ende des Jahres weiterhin ausgesetzt. Die Insolvenzantragspflicht war im März bis Ende September ausgesetzt worden für Fälle, in denen eine Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung von Firmen auf den Folgen der Corona-Pandemie beruht.
BILDUNGSOFFENSIVE: Aus EU-Corona-Hilfsgeldern soll eine digitale Bildungsoffensive finanziert werden, die zum einen aus 500 Millionen Euro für die Ausstattung von Lehrern mit digitalen Endgeräten besteht. Zum anderen soll der Aufbau einer bundesweiten Bildungsplattform vorangetrieben werden, die etwa einen geschützten und qualitätsgesicherten Raum für hochwertige digitale Lehrinhalte ermöglichen soll.
GRUNDSICHERUNG: Künstler, Kleinselbstständige und Kleinunternehmer sollen erleichterten Zugang zur Grundsicherung erhalten. Dazu will die Koalition beim Schonvermögen großzügigere Regelungen treffen. Auch der wegen der Corona-Krise erleichterte Zugang zur Grundsicherung insgesamt soll verlängert werden - bis 31. Dezember 2021.
SOZIALE DIENSTLEISTER: Soziale Dienstleister wie Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sollen weiter vor existenzbedrohenden Problemen wegen Einschränkungen in der Corona-Krise geschützt werden. Dazu wurde eine Verlängerung von Regeln zum Erhalt der Einrichtungen vereinbart.
UMRÜSTUNG VON KLIMAANLAGEN: Die Koalition will die Umrüstung von Klimaanlagen fördern - und damit dazu beitragen, die Ausbreitung des Virus zu verringern. Ein auf die Jahre 2020 und 2021 befristetes Förderprogramm in Höhe von 500 Millionen Euro soll zur „Corona-gerechten Umrüstung“ von Klimaanlagen in öffentlichen Gebäuden und Versammlungsstätten finanziert werden. Bisher hätten Klimaanlagen durch nicht ausreichend gefilterte Umluftrückführung in geschlossenen Räumen erheblich zum Infektionsgeschehen beigetragen.
WENIGER BÜROKRATIE: Eine Arbeitsgruppe soll ausloten, wie Bürokratie weiter abgebaut werden kann. Konkret heißt es in einem Papier, die Koalition werde eine hochrangige Arbeitsgruppe einsetzen, um Inhalte für ein „Bürokratienentlastungsgesetz IV“ identifiziere. Ziel des Gesetzes solle es sein, die Wirtschaft zu stärken, von Bürokratie zu entlasten und die „hohen geltenden Standards“ zu erhalten.
KINDERRECHTE: Eine weitere Arbeitsgruppe soll sich damit befassen, wie Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden können. Dies hatten Union und SPD bereits im Koalitionsvertrag vereinbart.
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