Großer Wurf oder kleinster gemeinsamer Nenner – wie fällt Ihre Bewertung der geplanten schwarz-roten Gesundheitspolitik aus?
Heinz Rothgang: Der Koalitionsvertrag enthält viele löbliche Absichtserklärungen, etwa zur Steigerung der Versorgungsqualität – allerdings wenig zur Umsetzung. Dabei sind die richtig erkannten Probleme seit Jahren bekannt. Das macht nicht viel Hoffnung auf tatsächliche Verbesserungen. Insofern: kein großer Wurf. Und die Forderung nach einer Angleichung der Honorarsysteme in der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung findet sich im Koalitionsvertrag nur noch als weiche Formulierung wieder. Dort ist lediglich festgeschrieben, dass eine „wissenschaftliche Kommission“ eingesetzt werden soll, die bis Ende 2019 Reformvorschläge vorlegen soll. Auch hier ist also nicht mit einer Revolution zu rechnen.
In Zukunft werden die Krankenversicherungsbeiträge und der Zusatzbeitrag wieder hälftig vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber bezahlt. Mit welcher Entwicklung der Beiträge rechnen Sie?
Der sogenannte „Arbeitgeberbeitrag“ ist letztlich eine sozialpolitische Illusion. De facto zahlt immer der Arbeitnehmer, weil sich der Arbeitgeber bei seinen Beschäftigungsentscheidungen immer am Arbeitgeberbrutto orientiert und die Frage, welcher Anteil davon direkte und welcher Anteil indirekte Lohnkosten sind, für ihn unerheblich ist. Die jetzt beschlossene Wiedereinführung der 2004 von einer SPD-geführten Regierung abgeschafften „Parität“ führt zunächst zu einer gesetzlich verordneten „Lohnerhöhung“ aller GKV-Beschäftigten von durchschnittlich rund 0,5 Prozent, da der bisher allein vom Arbeitnehmer zu zahlende Zusatzbeitragssatz jetzt wieder paritätisch finanziert wird. In der nächsten Lohnrunde wird dies aber berücksichtigt werden und spätestens nach zwei Lohnrunden dürfte der Effekt komplett verpufft sein.
Kommt es zur Groko, dann wird Jens Spahn neuer Gesundheitsminister. Eine gute Wahl?
Mit Jens Spahn wird ein Politiker Gesundheitsminister, der sich lange Jahre als gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion und als führendes Mitglied im Gesundheitsausschuss intensiv mit Gesundheitspolitik beschäftigt hat. Fachliche Kompetenz kann ihm niemand absprechen – und das ist sicherlich kein Nachteil. Er hat zudem gezeigt, dass er einem Streit nicht aus dem Weg geht. Auch das kann für einen Gesundheitsminister eine positive Eigenschaft im Kampf gegen die Lobbyisten im Gesundheitssystem sein. Allerdings war Spahn in der Vergangenheit selbst an einer Lobbyagentur beteiligt, die insbesondere Interessen von Pharmaunternehmen vertreten hat. Es bleibt deshalb abzuwarten, wie er sich gegenüber den starken Lobbygruppen im Gesundheitswesen verhalten wird.
Spahn hat unter anderem die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen kritisiert. Trauen Sie ihm zu, dass er neue Wege geht?
Die Strukturen im Gesundheitssystem sind inzwischen derartig verkrustet, dass die Selbstverwaltung kaum als Träger von Innovationen auffällig ist. Gesundheitsminister sollten daher stärker noch als in der Vergangenheit Aufgabenübertragungen an die Selbstverwaltung mit der Maßgabe versehen, die Gegenstände per Ersatzvornahme selbst zu regeln, wenn die gemeinsame Selbstverwaltung innerhalb vorgegebener Fristen keine überzeugenden Lösungen findet. Das traue ich Jens Spahn durchaus zu.
Vor drei Jahren hat Spahn auch die Trennung in gesetzliche und private Kassen infrage gestellt. Könnte es doch noch zu einer Art Bürgerversicherung light kommen?
Das Thema Bürgerversicherung wird nicht von der Agenda verschwinden. Ein Grund dafür sind die Gerechtigkeitsdefizite, die dadurch entstehen, dass sich der gesündere, jüngere und besser verdienende Teil der Bevölkerung aus der Solidarität mit den kränkeren, älteren und weniger gut verdienenden Bevölkerungsschichten verabschiedet. Ein weiterer Grund ist, dass die private Krankenversicherung unter anderem durch die Entwicklung auf den Kapitalmärkten nicht zukunftsfest ist. Schon aus diesem Grund wird die Reformdebatte nicht verstummen. Dem wird sich auch Jens Spahn stellen müssen und eine Lösung suchen, die dann womöglich nicht Bürgerversicherung heißt, aber wesentliche Elemente des Konzepts übernehmen wird.
Im Bereich der Pflege plant die Groko eine Konzertierte Aktion mit dem Ziel, Altenpfleger besser und einheitlich zu bezahlen. Wie ernst nehmen Sie diese Ankündigung?
Eine bessere Bezahlung in der Altenpflege ist zweifellos notwendig – um die Attraktivität des Berufes zu erhöhen und um zu verhindern, dass die Pflegekräfte, die in Zukunft generalistisch ausgebildet werden und dann in allen Sektoren des Gesundheitssystems arbeiten können, ausschließlich in die Krankenhäuser abwandern, in denen deutlich höhere Gehälter gezahlt werden. Wie die Ankündigungen im Koalitionsvertrag aber umgesetzt werden sollen, ist noch unklar. Zu bedenken ist zudem, dass jede Erhöhung der Gehälter von Pflegekräften in der Langzeitpflege zu hundert Prozent von den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen zu tragen ist, da die Leistungen der Pflegeversicherung pauschaliert sind. Sollen derartige Belastungen vermieden werden, sind bei einer Anhebung der Gehälter zugleich Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung vorzusehen.
Die Fragen stellte Hans-Ulrich Brandt.
Zur Person:
Heinz Rothgang ist Professor für Gesundheitsökonomie an der Uni Bremen und leitet dort die Abteilung „Gesundheit, Pflege und Alterssicherung“ im SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik.
Das sagen Bremer Experten
Eva Quante-Brandt, Gesundheitssenatorin:
Das Wichtigste: Der Zusatzbeitrag der gesetzlichen Krankenversicherung wird wieder je zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt. Das ist eine große Erleichterung für Millionen von Bürgern. Ebenso, dass künftig privat und gesetzlich Versicherte gleich schnell ihre Termine beim Facharzt bekommen sollen. Die Vergütung der Arzt-Honorare soll überarbeitet werden. Wichtig ist auch, dass die Gesundheitsversorgung in strukturschwachen Gebieten verbessert wird. Ärzte, die sich dort niederlassen, sollen Zuschläge erhalten. Auch in den Städten können soziale Unterschiede so leichter ausgeglichen werden. Gegen den Fachkräftemangel in der Pflege wird ein Sofortprogramm für 8000 neue Kräfte aufgelegt.
Christiane Lutter, Vorsitzende des Bremer Apothekerverbands:
Über die Ankündigung im Koalitionsvertrag, die Apotheken vor Ort stärken zu wollen, ist die Bremer Apothekerschaft erleichtert. CDU, CSU und SPD wollen die bundesweite Gleichpreisigkeit von rezeptpflichtigen Arzneimitteln wiederherstellen und damit eine Schieflage im Wettbewerb unter den Apotheken im europäischen Kontext ausgleichen, indem sie sich für ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln einsetzen. Gerade im Zusammenhang mit den strukturpolitischen Zielen der zukünftigen Bundesregierung müssen die Apotheken in der Fläche gehalten werden.
Jörg Hermann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen:
Ärzte und Psychotherapeuten sollen statt 20 nun 25 Sprechstunden pro Woche anbieten. Was sich für Patienten zunächst gut anhört, ist nichts weiter als Augenwischerei. Die Politik verkennt, dass niedergelassene Ärzte pro Woche schon heute deutlich mehr als 50 Stunden für ihre Patienten da sind. Wenn es die Politik ernst meinte, dann würde sie die überbordende Bürokratie in den Praxen abbauen, die Begrenzung des Behandlungsangebots durch Budgetierung abschaffen und endlich für mehr Studienplätze sorgen. Stattdessen wird ein ganzer Berufsstand als faul diskreditiert. Kein Patient wird jemals seinen Arzt beim Däumchen drehen erwischen.
Olaf Woggan, Vorstandschef der AOK Bremen/Bremerhaven:
Digitalisierung, mehr Qualität in der Versorgung und bessere Vernetzung von Ärzten, Kliniken und anderen Akteuren im Gesundheitswesen sind Pluspunkte. Dazu begrüßt die AOK die Absicht, mehr Pflegepersonal in Krankenhäusern und der Altenpflege zu beschäftigen. Wir arbeiten in der Bremer Pflege-Initiative gegen den Fachkräftemangel seit Jahren daran. Nur mehr Geld reicht aber nicht: Insofern sind die vorgesehenen Mindestpersonalzahlen und eine Nachweispflicht, dass tatsächlich neue Pflegekräfte eingestellt wurden, genau richtig. Kritisch sieht die AOK dagegen, dass sich in dem Koalitionsvertrag kaum wettbewerbliche Elemente finden, und dass die völlig überhöhten Preise bei neuen Arzneimitteln mit keinem Wort erwähnt werden.
Alexander Künzel, Vorstandsvorsitzender der Bremer Heimstiftung:
Ob (begrüßenswerte) Tarifbindung, ob (völlig unzureichende) Stellenaufstockung, ob (noch lange nicht geklärte) Generalistik – diese Detail-Themen und manche konkreten Verbesserungen sind löblich und trauen sich doch nicht heran an den Kern der eigentlichen Jahrhundertaufgabe: Der Tsunami des demografischen Wandels wird unser Pflege- und Gesundheitssystem mit einer prognostizierten Personallücke von bis zu 500.000 hauptamtlichen Kräften auseinanderreißen. Als Antwort darauf braucht es eine radikale Umsteuerung unserer Pflege-Politik und unser aller Pflegeverständnisses. Daher sollte der Einsatz für den sozialen Zusammenhalt „ressortübergreifend“ ein Kernanliegen der künftigen Koalition sein. Speziell Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik muss hierfür aber aktiv werden.
Serie: Der Koalitionsvertrag
Bis zum 2. März um 24 Uhr stimmen exakt 463.723 SPD-Mitglieder für oder gegen den Eintritt in eine Große Koalition. Das Prozedere ist nicht ganz billig. Die Kosten belaufen sich auf rund 1,5 Millionen Euro. Doch die Parteiführung steht nach einigen Personalwechseln und Kungel-Vorwürfen durch die Basis derart unter Beschuss, dass die Verantwortlichen diese wegweisende Entscheidung für die kommenden Jahre nun in die Hände der Mitglieder gelegt haben. Das Ergebnis des Votums wird am kommenden Sonntag voraussichtlich am frühen Nachmittag verkündet. Was aber steht genau im Koalitionsvertrag? Was bedeutet er für Bremen und Niedersachsen? Was sind die Auswirkungen auf jeden Einzelnen? Kommt es zu steuerlichen Mehr- oder Minderbelastungen? In welchen Bereichen ist was geplant? Von diesem Montag an bis zum Sonnabend beleuchten wir täglich das 177 Seiten dicke Werk – jeweils unter einem thematischen Aspekt.