Mit leichten Beben kennt sich die Dame aus. Wo Elke Twesten zuhause ist, in Rotenburg an der Wümme im Norden Niedersachsens, rumpelt die Erde immer wieder mal. Kleine Beben sind keine Seltenheit, in der Gegend wird seit Jahrzehnten intensiv nach Gas gebohrt. Alle paar Jahre rumpelt es in den Dörfern um Rotenburg, in Bothel oder Brockel und Scheeßel. Kleine und kleinste Beben, dann klappern Türen, der Schrank wackelt ein bisschen, wie im Mai 2016 das letzte Mal, und man hört das Geschirr leicht scheppern. Aber mehr ist bislang noch nie passiert.
Nun hat Twesten selbst ein Beben ausgelöst. Nicht in Rotenburg, sondern im 112 Kilometer entfernten Hannover und mit maximalem Ausschlag auf der politischen Skala: Sie hat nach 20 Jahren die Grünen verlassen, ist in die CDU eingetreten, hat damit als Landtagsabgeordnete die rot-grüne Regierungsmehrheit von nur einer Stimme gekippt. Von jetzt auf gleich ist das politische Hannover erwacht, raus aus dem behaglichen Sommermodus, rein ins Wahlkampfgetümmel. Eigentlich hätten die Niedersachsen im Januar 2018 die Wahl gehabt, nun schon im Herbst, Ausgang völlig ungewiss.
Wie das bei Beben so ist: Alle sind irritiert bis schockiert, niemand hatte etwas geahnt im politischen Betrieb in Hannover. Nicht einmal die Grünen, die hätten merken können, dass sich da etwas in der wütenden Rotenburgerin zusammenbraut: Twesten, seit 20 Jahren Parteimitglied, seit 2008 im Landtag, hatte vor zwei Monaten einen Riesenkrach mit den Rotenburger Grünen. Die 54-jährige energische und äußerst zielstrebige Politikerin war von den eigenen Leuten abserviert worden. Und das war ganz neu für jemanden, der nur Aufstieg kannte: Plötzlich Karriereende! Ihr wurde eine andere Frau vor die Nase gesetzt, die für den Landtag kandidieren soll.
In Hannover sah merkwürdigerweise kein Spitzen-Grüner die Gefahr für die Ein-Stimmen-Mehrheits-Koalition. Nichts regte sich. Vergangenen Freitag verwandelten sich die unsichtbaren Spannungen und Verwerfungen in und um Rotenburg dann in ein lautes Beben: Twesten lief zur CDU über und gab öffentlich eine knappe Erklärung im Beisein des CDU-Fraktionsvorsitzenden Björn Thümler ab. Eine zornige Frau war zu beobachten, die gerade eine Regierung schrottete. Nun ist sie noch ein paar Wochen Unionsabgeordnete. Aber dann ist Schluss, sie wird ohne Listenplatz den Landtag verlassen müssen.
Maximales Durcheinander
Das Durcheinander in Hannover ist maximal, der normale Regierungsbetrieb zum Stillstand gekommen. Sogar in der CDU verspüren einige Mitleid mit SPD-Ministerpräsident Stephan Weil, während andere ihn beschimpfen. Montagmittag traf sich der immer noch geplättet wirkende Regierungschef mit den Fraktionsvorsitzenden und CDU-Landtagspräsident Bernd Busemann, um darüber zu beraten, wann es nun Neuwahlen geben soll. Am liebsten am 24. September, SPD, CDU und Grüne wären einverstanden mit dem Tag der Bundestagswahl. Am Nachmittag nach Ende der Beratung stand ein anderes Datum fest: Man habe sich auf den 15. Oktober geeinigt, verkündete Weil.
Als wäre nicht alles schon ärgerlich und aufregend genug, verwandelte sich übers Wochenende eine jahrelang gepflegte Selbstverständlichkeit zwischen niedersächsischen Landesregierungen und dem Volkswagen-Konzern in zusätzlichen Ärger für Weil: Er hat vor zwei Jahren eine Regierungserklärung zum VW-Skandal vorab an VW geschickt, eine Erklärung, die von VW dann im VW-Sinn aufgehübscht und hochglanzpoliert worden sein soll. Die „Bild am Sonntag“ hatte berichtet, der Autokonzern habe im Oktober 2015 Weils Redemanuskript frisiert, weich gespült und Kritik heruntergefahren. Ein VW-Mitarbeiter habe das so gesagt.
Die Sache stimmt und sie stimmt nicht, denn sie ist, wie Ministerpräsident Weil sagt, eine „olle Kamelle“. In Niedersachsen ist es immer schon üblich, dass sich Landesregierung und Autokonzern haargenau abstimmen. FDP-Chef Christian Lindner meinte zwar empört, es sei „eine Grenzüberschreitung“, wenn der Ministerpräsident Niedersachsens seine Regierungserklärung zu VW dem Unternehmen vorab zur Korrektur vorlege. Von der FDP-Fraktion in Hannover hätte er aber erfahren können, dass dieses Grenzgängertum seit Generationen selbstverständlicher Bestandteil niedersächsischer Politik – auch unter FDP-Wirtschaftsministern – gewesen ist.
Denn das Land ist auch Unternehmer, es gibt ein eigenes VW-Gesetz, das diese Besonderheit regelt: Niedersachsen ist mit 20 Prozent der zweitgrößte Anteilseigner von VW. Der Ministerpräsident sitzt mit seinem Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) im Aufsichtsrat, Weil sogar in dessen Präsidium. VW ist das mit Abstand bedeutendste Unternehmen in dem nördlichen Bundesland. Es hat Werke in Wolfsburg, Emden, Hannover, Braunschweig, Salzgitter und Osnabrück. Es beschäftigt rund 100 000 Menschen. Hustet der Konzern, bekommen strukturschwache Gegenden wie Ostfriesland mit seinem Emder Werk gleich eine Lungenentzündung. Die Verflechtungen zwischen Politik und VW sind deshalb immer schon eng, VW-Werksleiter und Betriebsräte sind mächtige Leute in ihren Regionen und in den Parteien. Niedersachsen und VW, das ist wie Pott und Deckel, egal, ob die CDU oder die SPD gerade den Regierungschef stellt.
Weil hat am Sonntagabend den Redetext samt Änderungswünschen von VW öffentlich gemacht. Er rechtfertigte seinen damaligen Schritt, den Entwurf von VW prüfen zu lassen, mit dem höchst vertrackten Streit zwischen VW und den USA um die Tricksereien bei Dieselabgaswerten. Es ging um kompliziertes Verfahrensrecht, es ging um Milliarden-Forderungen. Jedes Wort landete auf der Goldwaage. Weils Sprecherin bestätigte am Wochenende, dass im Herbst 2015 nach Aufdeckung des Skandals Pressemitteilungen oder Erklärungen regelmäßig an VW gingen, versehen mit der Bitte, die Texte auf mögliche faktische oder rechtliche Bedenken zu prüfen. Auch ein VW-Sprecher meinte dazu, es sei üblich, dass Aufsichtsratsmitglieder geplante Aussagen über Konzernangelegenheiten mit dem Unternehmen abstimmen.
Im Kern unverändert
Kaum hatte Weil am Sonntagabend den Redetext nebst Anmerkungen veröffentlicht, legte sich die Aufregung halbwegs. Von schlimmen Schönfärbereien war in dem zehnseitigen Papier nichts zu erkennen, im Kern war der Text unverändert. Ebenso wenig war erkennbar, dass Volkswagen-Verantwortliche Weils Text weich gespült haben. Im niedersächsischen Landtag kann das keine Überraschung gewesen sein, denn – „olle Kamelle“ – das Thema war schon vor einem Jahr im Landtag ausgiebig diskutiert worden.
Vielleicht hätte ein Grüner das aktuelle Durcheinander in Hannover ja doch vor ein paar Wochen verhindern können. Helge Limburg, dem parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen, soll die abtrünnige Elke Twesten im Juni nach ihrem Scheitern in Rotenburg gesagt haben: „Du weißt, dass ich ein unmoralisches Angebot von der CDU habe?“ Aber mehr kam nicht, Limburg fragte nicht weiter nach. Er habe das Ganze für abwegig gehalten, begründet er heute. Wer weiß, was stimmt: Aus der CDU heißt es, es habe nie ein unmoralisches Angebot gegeben.
Aber das nur nebenbei, ein wohl nicht zu klärendes Detail, es interessiert auch niemanden in Hannover, wo gerade alles verstört von Sommergemütlichkeit auf Wahlkampf umschaltet.