Es steht im Grundgesetz: Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Dort steht nicht: Das gilt vor allem für CDU/CSU und SPD. Und doch ist es so. Seit bald 70 Jahren prägen Christdemokraten und Sozialdemokraten das politische Geschehen der Bundesrepublik. Sie stellen die Regierungschefs im Bund und den allermeisten Ländern. Baden-Württemberg und Thüringen gelten gerade mal als exotische Ausnahmefälle. Das war 1949 schon so, und das ist bis heute so geblieben, weil fast 70 Jahre lang die Bundesbürger ihnen bei allen Wahlen das Vertrauen und die notwendigen Mehrheiten gegeben haben. Auch deshalb heißen sie Volksparteien. Sie haben alle Stürme des Kalten Krieges, des Mauerbaus, der Studentenunruhen, von Wirtschaftskrisen, Währungsumstellung, der Übernahme des gescheiterten Konkurrenzstaates DDR, der Europäisierung und der Globalisierung überdauert. Da mochte die Welt noch so kopfstehen, Union und SPD waren immer da und würden es schon richten.
Man kann das ein Wunder nennen oder auch das Ergebnis einer klugen, an den Interessen der Menschen orientierten Politik. Das muss nicht vorbei sein, nur weil die AfD hier und da schon die SPD und nun auch einmal die CDU übertrumpft hat. Es kann aber vorbei sein. Es kann sein, dass die Unerbittlichkeit, mit der die CSU die Schwesterpartei CDU und deren Vorsitzende Angela Merkel angreift, zum Verfall der christlich-konservativen Parteienstruktur in Deutschland, zum Ende des scheinbar ewigen Machtbündnisses CDU/CSU führt. Es mag also sein, dass wir bald das Zerbröseln eines der stabilsten Parteiensysteme der demokratischen Welt erleben. Das ist vielleicht nicht schön und vielleicht auch nicht gerecht, schon gar nicht in den Augen der Anhänger dieser Parteien. Aber es ist auch kein Weltuntergang. Es werden sich neue Kräfteverhältnisse und neue Bündnisse fügen.
Wenn in Mecklenburg-Vorpommern 20 Prozent der Wähler für die AfD gestimmt haben, dann waren immerhin 80 Prozent nicht für diese Partei, eine überwältigende Mehrheit, die in den aufgeregten Debatten nach solchen Wahlen oft einfach vergessen wird. Wenn aber 20 Prozent der Wähler der Meinung waren, diese Partei gehöre ins Parlament, dann gehört sie da auch hin. Unter der ewigen Regentschaft von CDU/CSU und SPD, oft sogar in Koalitionen verbunden, haben wir vergessen, dass Demokratie erst einmal Streit heißt. Auseinandersetzung um den richtigen Weg. Und dann erst Konsens. Der Streit mit den AfD-Abgeordneten wird die Parlamente beleben, die Politiker der anderen 80 Prozent können ihre Argumente schärfen und dennoch oder gerade deshalb das Richtige beschließen. Nur eines dürfen sie den Rechten mit ihren fremdenfeindlichen, völkischen, illiberalen Parolen nicht gestatten: dass sie den Diskurs bestimmen und nach rechts verschieben, so wie es in den vergangenen Monaten geschehen ist.
Die letzten Monate haben freilich auch gezeigt, dass es in der politischen Auseinandersetzung selten so wenig um Argumente gegangen ist wie heute. Nicht Fakten zählen, sondern das Gefühl. Niemand hat das frecher auf den Punkt gebracht als der Berliner AfD-Spitzenkandidat Georg Pazderski in der Fernseh-Debatte zur Wahl: „Das, was man fühlt, ist Realität.“ Das Publikum hat ihn dafür ausgelacht. Aber leider hat er offenbar eine weitverbreitete Realität formuliert, wie auch jüngere Umfragen zeigen. So wird die Debatte über die Flüchtlingsfrage von der Behauptung, oder besser: dem Gefühl, bestimmt, dieses Land sei nicht mehr das gleiche wie vor der großen Zuwanderung.
Eine groteske Fehlwahrnehmung. Praktisch niemandes Lebensbedingungen haben sich in den vergangenen ein, zwei Jahren wegen der Flüchtlinge verändert. Verändert hat sich der öffentliche Diskurs, der von Feindseligkeit und Hass geprägt ist, wie es das vorher in der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat. Dazu zeigen Umfragen: Den Menschen geht es gut, dennoch fühlen sie sich schlecht. Dahinter steckt offenbar eine schwer zu fassende Verunsicherung, eine Entfremdung von unserer Gesellschaft und die nostalgische Anmutung, die besten Zeiten lägen hinter ihnen. Dem ist mit Fakten schwer zu begegnen.
Was aber kann man notorischen Schwarzsehern und Miesmachern sonst entgegensetzen? Gute Gefühle fallen nicht vom Himmel. Das Bedürfnis nach einer Alternative zur herrschenden Politik aber ist greifbar. Wie wäre es mit einem Zukunftsprojekt für Deutschland, in dem die Milliarden Steuerüberschüsse den Bürgern durch Investitionen zurückgegeben werden, deren Auswirkungen sie vielleicht noch nicht unmittelbar spüren, deren Ziel sie aber erkennen. Projekte, die Chancengleichheit in abgehängte, sogenannte Problembezirke der Großstädte bringen, durch neue Schulen und die gezielte Ansiedlung von Unternehmen. Ein Programm, das stillgelegte Bahn- und Busstrecken in abgehängte ländliche Regionen zurückbringt. Und eines, das dort den demokratischen Staat mit seinen Institutionen wieder sichtbar macht. Ein europäisches Programm, das die Macht der Internetunternehmen über die Daten der Nutzer begrenzt und sie nicht an ausländische Behörden weitergibt. Die Liste ließe sich mit Themen wie Gesundheit, Wohnraum, Gleichstellung, Teilhabe, Umweltschutz noch lange fortsetzen.
Es gäbe viel zu tun, um die Menschen wieder zu begeistern, für diesen, für ihren Staat Bundesrepublik Deutschland. Auch den Patriotismus muss man nicht den Rechten überlassen, wenn man zeigt, was ein freiheitlicher, demokratischer, liberaler Staat wert ist. Eigentlich eine schöne Aufgabe für Volksparteien. Angesichts der Blockade der Konservativen stellt sich die Frage: Was tut eigentlich die Linke dieses Landes, was tun Sozialdemokraten, Grüne und Linkspartei, um den Bürgern eine Alternative zur herrschenden Politik zu bieten, die als solche erkennbar ist?