- Jeder Vierte leidet langfristig
- Ewige Erinnerungen
- Psychosomatische Folgen
- Der Kölner Risikoindex
- Selbsterholer, Wechsler und Risikofälle
- Die gemeine Amaxophobie
Kaum enden wollende Erinnerungen, Albträume, Unsicherheiten: Ein Verkehrsunfall ist eine einschneidende Erfahrung, das gilt für alle Beteiligten. Die Verunglückten, ihre Lieben, aber auch ihre Helfer begleitet ein derartiges Erlebnis oft viele Jahre. Kommen Menschen schwer verletzt ins Krankenhaus oder ums Leben, brennt sich das Ereignis schnell tief in die Psyche ein – mit weitreichenden Folgen.
Stirbt ein Mensch im Straßenverkehr, zählt der Kreis der Betroffenen durchschnittlich 113 Personen. Bekannte, Freunde, Verwandte, aber auch die Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst – sie alle sind dem Unfall und seinen Nachwirkungen ausgesetzt. Ein besonders hohes Risiko, daran psychisch zu erkranken, trifft Menschen, die sich im Moment des Unglücks hilflos fühlten oder vorbelastet sind.
Jeder Vierte leidet langfristig
„Psychische Folgen zeigen sich zunächst in einer akuten Belastungsreaktion“, erläutert Walter Eichendorf, Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR), die gemeinsam mit dem Bundesverkehrsministerium erhobenen Daten. Die Mehrheit der Leidtragenden bewältige die Herausforderungen selbstständig. In anderen Fällen treten Erkrankungen wie Depression, Panik oder posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf.
Genauere Statistiken fehlen, auch die Auswirkungen einer angekratzten Psyche auf das Verhalten im Verkehr sind bislang wenig untersucht – einen Anhaltspunkt jedoch gibt die Bundesanstalt für Straßenwesen. In einer Befragung fand das Forschungsinstitut heraus, dass jeder Vierte der Schwerverletzten, die zur stationären Behandlung in ein Krankenhaus kommen, langfristiger leiden. Es sei zu vermuten, dass Betroffene am Steuer weniger angemessen reagieren, mutmaßt der DVR, sich unsicher verhielten oder die Teilnahme am Verkehr mieden.
Ewige Erinnerungen
Nicht zuletzt seit 1995 und der in Schweden ins Leben gerufenen Kampagne „Vision Zero“ richtet sich das Hauptaugenmerk der Automobilbranche einerseits darauf, Unfälle zu verhindern, andererseits darauf, die Folgen zu mildern. Obgleich wohl jeder schon von posttraumatischer Belastungsstörung gehört hat, weiß kaum jemand, was dahintersteckt. „Viele verbinden damit in erster Linie Schicksale von Menschen, die aus Kriegs- oder Krisengebieten kommen, oder aber Opfer von Gewalt“, sagt die Psychologische Psychotherapeutin Elena Garbade.

Auch unabhängig von einem konkreten Erlebnis wie einem schweren Unfall berichten viele Menschen von Fahrangst, der Amaxophobie.
Dabei sei ein Unfall – egal, ob als direkt Beteiligter, Zeuge, Helfer oder unter Umständen Hinterbliebener – ein keinesfalls zu unterschätzender Auslöser. „Typisch sind die sogenannten Symptome des Wiedererlebens. Einige holt das Ereignis jeden Tag aufs Neue ein, andere in unregelmäßigen Abständen. So kann es sein, dass Erinnerungen an Körperempfindungen oder auch Gerüche wieder präsent werden. Die Fähigkeit, Distanz dazu aufzubauen, fehlt.“
Psychosomatische Folgen
In manchen Fällen der PTBS zehren darüber hinaus Alb- und Angstträume an den Kräften. Und auch körperlich kann sich ein Trauma äußern. Ein vermehrtes Schwitzen oder Bauchschmerzen etwa entwickeln sich schnell zu einem fortdauernden Problem. Halten die emotional heftig ausfallenden Reaktionen länger als vier oder sogar acht Wochen an, ist daher der Zeitpunkt gekommen, sich professionelle Hilfe zu nehmen.
Allzu oft gingen unliebsame Erinnerungen mit Strategien der Vermeidung einher, erläutert Garbade. „Neben einer emotionalen Abgestumpftheit und einem fehlenden Antrieb steigt schnell auch die Angst vor dem Autofahren an sich, und das derart, dass sich Patienten zum Beispiel sträuben, Strecken mit Gräben zu fahren – sogar als Beifahrer.“
Der Kölner Risikoindex
Konkret zählt der DVR im Mittel elf Familienangehörige, vier enge Freunde, 56 Freunde und Bekannte, die nachhaltig von einem Tod im Straßenverkehr betroffen sind, dazu insgesamt 42 Einsatzkräfte – Schlagwort Einsatznachbereitung. Auch für Notärzte, Sanitäter, Pfleger, Polizisten und Feuerwehrleute gilt es, aufreibende Erlebnisse so frühzeitig wie angemessen aufzuarbeiten.
Nach einem Notruf reißt es sie von einer auf die andere Minute aus ihrer gewohnten Umgebung, zum Beispiel aus ihrer Familie heraus, im schlimmsten Fall bergen sie die Verunglückten tot – kurz drauf kehren sie zurück nach Hause. Wie ändert sich das Gefühl des Heimkehrers für Wirklichkeit und Fantasie, wie geht er mit lebensbedrohlichen Lagen, wie mit Verlust um, wie schwer fallen gegebenenfalls eigene körperliche Verletzungen aus? Anhand dieser und weiterer Faktoren gibt zum Beispiel der Kölner Risikoindex Auskunft über das Ausmaß eines Traumas.
Selbsterholer, Wechsler und Risikofälle
Der Kennwert dient zivilen Organisationen wie auch dem Militär, aus ihren Einsätzen zurückkommende Kräfte adäquat zu versorgen. Er unterscheidet zwischen Selbsterholern, Wechslern und Risikopatienten. Während Erstere auf natürliche Art (Selbstheilungsprozess) genesen, ist die Wechslergruppe zwar ebenfalls dazu fähig, jedoch können kleine Störfaktoren im privaten oder beruflichen Umfeld die Lage kippen lassen (latente Gefährdung). Für die dritte, die Risikogruppe gilt: Neben der chronischen Belastungsstörung steigt die Wahrscheinlichkeit für weitere Beschwerden (komorbide Störungen). Neben den bereits genannten wie Depression, Angst und Panik zählen dazu Süchte, etwa die Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit.
„Die Lebensqualität kann rapide sinken“, sagt Psychologin Garbade. Vereinsamung, Probleme, den Alltag zu meistern, Stress in der Partnerschaft, eine eingeschränkte Arbeits- und Einsatzfähigkeit, sogar die vorzeitige Berentung – das sind nur einige der Folgen, von denen Betroffene über Jahre berichten. Ein besonderes Augenmerk gelte Kindern und Jugendlichen. Die Ressourcen zur Bewältigung bewegender Ereignisse seien bei ihnen noch schwach ausgeprägt.
Die gemeine Amaxophobie
Fahrangst, in Fachkreisen als Amaxophobie bekannt, tritt allerdings auch unabhängig von einem konkreten Erlebnis wie einem schweren Unfall auf. Gedrängter Verkehr, enge Baustellen, beeinträchtigte Sicht durch Nebel oder Dunkelheit, lange Tunnel – die Liste der Dinge, die dem einen oder anderen Autofahrer ein mulmiges Gefühl verschaffen, ist lang. Einige Verkehrsteilnehmer malten sich zum Beispiel Worst-Case-Szenarien aus, schreibt der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC), bei anderen sei es die Angst, andere Menschen zu gefährden.
Für eine erste Aufarbeitung empfiehlt Ulrich Chiellino, Verkehrspsychologe des ADAC, zuallererst sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, mit Familie und Freunden zu sprechen oder Angsttagebu?cher anzulegen. Verunsichert die mangelnde Fahrpraxis allein, können auch Auffrischungskurse oder Fahrsicherheitstrainings eine Lösung sein.