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Die neue Lust auf Freiheit Warum sich Menschen für offene Beziehungen entscheiden

Eine offene Beziehung unterscheidet sich von einer monogamen – aber es gibt auch viele Überschneidungen. Immer mehr Menschen interessieren sich für dieses Beziehungsmodell.
07.04.2024, 05:00 Uhr
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Warum sich Menschen für offene Beziehungen entscheiden
Von Anja Semonjek

Wer eine offene Beziehung führt, muss sich Vorurteilen stellen. So berichtet es zumindest Svenja Sörensen. Die 38-jährige Hamburgerin und Mutter eines Kindes führt seit sieben Jahren eine solche Partnerschaft. „Das ist doch Fremdgehen mit Ansage“, lautete etwa ein Vorurteil. Oder: „Warum führt ihr überhaupt eine Beziehung, wenn ihr euch nicht reicht?“

Die Initiative kam damals von ihrem Mann Johannes. Zehn Jahre waren sie bereits ein Paar, da fragte er unverblümt, was sie von einer offenen Beziehung halte. Die Reaktion von Svenja Sörensen: „Das ist nicht dein Ernst!“ Tränen, Verzweiflung und Ablehnung folgten. Anschließend stand das Thema monatelang wie ein Elefant im Raum. Der Wendepunkt kam, als Sörensen etwas Schockierendes auf dem Handy ihres Mannes entdeckte: Er ging ihr mit mehreren Frauen fremd. Sörensen vermutete die Untreue bereits zuvor, denn Johannes war häufig alleine im Hamburger Nachtleben unterwegs. Außerdem chattete er mit vielen Frauen.

Zwei Dinge retteten laut Sörensen die Beziehung: erstens der Entschluss, sich trotzdem füreinander zu entscheiden und zweitens in das Beziehungsfundament zu investieren. „Wir waren ehrlich. Radikale Ehrlichkeit statt Pseudoharmonie. Das war neu.“ Svenja Sörensen begann, sich mit dem Thema offene Beziehung zu beschäftigen – und sich dafür zu interessieren. Sie überlegte, wie es wohl in einer Beziehung wäre, in der sich Nähe und Geborgenheit, Liebe, Freiheit und Abenteuer nicht gegenseitig ausschließen würden. Schließlich gelang es ihr, mit ihrem Partner eigene Regeln für die Beziehung zu definieren. Über den Prozess schreibt sie in ihrem Buch „Offen lieben. Wie offene Beziehungen wirklich gelingen“ (Ullstein Verlag, 2023). Da Sörensen als Beziehungscoach arbeitet, formuliert sie in dem Buch zudem Tipps für Paare, die über eine Öffnung nachdenken. Sörensen erläutert etwa, wie man sich selbst zur Priorität eins in der Beziehung macht. Ferner schildert sie, wie es Menschen gelingt, die eigenen Werte und Bedürfnisse zu erkunden.

Offene Beziehung, Freundschaft Plus oder Polyamorie?

Für ein nicht monogames Liebesleben gibt es heute viele Begriffe. Aber was ist eigentlich der Unterschied zwischen offenen Beziehungen, Polyamorie oder Freundschaft Plus? Sörensen meint dazu: Es sei nicht richtig, Freundschaft Plus und unverbindliches Dating mit einer offenen Beziehung gleichzusetzen. Häufig diene dieser Vergleich der Abwertung von offenen Beziehungen. „Dabei ist natürlich jedes einvernehmliche Modell für sich eine legitime Art des Zusammenseins.“

Offene Beziehungen sind ihrer Meinung nach keine starren Konstrukte. „In einem andauernden Prozess wird kommuniziert, verhandelt, Kompromisse werden geschlossen, Grenzen werden gesetzt.“ Es gebe eine Hauptbeziehung, die im besten Fall stabil genug sei, um auch Verliebtheitsgefühle für kürzlich kennengelernte Menschen auszuhalten.

Der Psychologe Holger Lendt definiert offene Beziehungen im Interview mit dem Online-Medium „The Pioneer“ anders. Er sagt: „Meistens öffnet man sich in der Sexualität.“ Mit mehr als einem Partner werde Erotik ausgelebt. Menschen, die sich emotional öffneten und auch die anderen Datingpartner liebten, würde man als polyamore Menschen bezeichnen. Poly­amorie sei ungewöhnlich. „Aber offene Beziehungen sind stärker geworden“, sagt Lendt. Das liege seiner Meinung nach daran, dass mehr darüber geschrieben werde. Vor allem in Großstädten wie Berlin, Zürich, Hamburg und Köln werde es dann auch viel gelebt – und schon wieder darüber gesprochen.

Offene Beziehungen im Freundeskreis

Heutzutage sind offene Beziehungen keine Seltenheit mehr. Das bemerken auch Menschen, die Dating-Apps wie Tinder und Bumble nutzen. Auch in Bremen. Die 29-jährige Bremerin Melanie Lehmann (Name auf Wunsch geändert) hat damit Erfahrungen gemacht – obwohl sie die App selbst nicht installiert hat. Sie bekam über eine dritte Person mit, dass der Partner ihrer guten Freundin auf der Plattform nach Dates sucht.

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Nun stand Lehmann vor einem Dilemma: Sollte sie ihrer Freundin davon erzählen? Sie wusste, dass das Paar gerade das Zusammenziehen in eine gemeinsame Wohnung plante. Lehmann schlief eine Nacht darüber und entschloss dann, ihrer Freundin die vermeintlich schlechte Nachricht zu überbringen. Doch dann folgte die Überraschung: „Sie weiß, dass er auf Tinder ist. Sie haben eine offene Beziehung. Sie hat sich aber sehr darüber gefreut, dass ich ihr das erzählt habe“, berichtet sie am selben Tag. Obwohl es bei Lehmann leichte Verwirrung auslöst, bespricht sie das Thema nicht ausführlich mit ihrer Freundin.

Ist Monogamie ein Auslaufmodell? Eine Umfrage zeigt, dass jüngere Menschen anders über Liebe und Partnerschaft denken als ältere. Jeder zweite Erwachsene unter 30 sagt demnach dem Modell offene Liebesbeziehung eine rosige Zukunft voraus. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2023 des Instituts Fittkau und Maaß im Auftrag von Elite-Partner hervor. In der Bevölkerung zwischen 18 und 69 Jahren glaubt nur etwa ein Drittel, „dass offene Beziehungen in Zukunft häufiger werden“, bei den Menschen über 60 nur etwa ein Fünftel.

Das erste Date von Svenja Sörensen und ihrem Mann stand an. Mit einem Paar, das sie über die Internet-Kontaktbörse Joy Club kennenlernten. Sörensen schossen solche Gedanken durch den Kopf, wie man sie vor einem Date üblicherweise hat – diese Erfahrung jedoch gemeinsam mit ihrem Mann zu erleben, empfand sie als surreal. „Ich weiß noch, wie aufregend es war, als Johannes und ich uns zu Hause fertig machten und die positive Spannung in der Luft lag. Wie sind sie wohl? Hoffentlich haben wir uns was zu erzählen und es entsteht keine peinliche Stille!“ So viel sei verraten: Das Treffen lief gut. Es sollte nicht das letzte Doppeldate sein.

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