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Erbgut verändert sich Warum der Ostseedorsch immer kleiner wird

Dramatische Schrumpfung des Ostseedorsches: Forscher des GEOMAR in Kiel weisen nach, dass intensive Fischerei das Erbgut der Art verändert hat.
06.07.2025, 05:00 Uhr
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Von Björn Lohmann

Früher war der Dorsch ein Brocken. Wer in den 1980er-Jahren vor Bornholm die Netze einholte, konnte mit einem kapitalen Fang rechnen: über ein Meter lang, bis zu 40 Kilo schwer – ein einziger Fisch konnte eine Mahlzeit für eine Großfamilie liefern. Heute sieht das anders aus. Die Dorsche sind geschrumpft. Und das hat Gründe bis in die DNA der Fische hinein.

Ein ausgewachsener Dorsch aus dem Jahr 2025 würde auf einen normalen Teller passen. Würde – denn der Fang ist aufgrund des Zusammenbruchs der Bestände seit 2019 verboten. Jetzt haben Forscher des Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung (GEOMAR) in Kiel nachgewiesen, dass nicht nur der Populationsschwund, sondern auch das körperliche Schrumpfen auf die Fischerei zurückzuführen ist.

„Die selektive Übernutzung hat das Genom des östlichen Ostseedorsches verändert“, sagt Kwi Young Han vom GEOMAR, Erstautorin einer entsprechenden Studie, die Ende Juni im Fachjournal „Science Advances“ erschienen ist. „Sichtbar wird dies an dem Rückgang der durchschnittlichen Größe, was wir auf geringere Wachstumsraten zurückführen konnten“, erläutert die Evolutionsbiologin.

Spurensuche im Gehörstein

Für diesen Nachweis nutzten die Forscher Gehörsteinchen von 152 Dorschen, die zwischen 1996 und 2019 im Bornholm-Becken gefangen wurden. Der Gehörstein (in der Fachsprache als Otolith bezeichnet) ist ein kleines kalkhaltiges Strukturelement im Innenohr von Fischen. Sie wachsen lebenslang und lagern dabei Schicht um Schicht neue Kalkmaterialien ab. Ähnlich wie bei Baumringen lassen sich an ihnen das Alter und das Wachstum in bestimmten Lebensjahren ablesen.

Meist werden Otolithe durchschnitten und unter dem Mikroskop auf sichtbare Jahresringe untersucht. Das funktioniert bei Ostseedorschen jedoch schlecht, weil ihre Otolithe in der salz- und sauerstoffarmen Ostsee oft unregelmäßige oder undeutliche Ringmuster zeigen.

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Für ihre Studie haben die Forscher stattdessen den Otolith mit einem Laser entlang seines Radius’ abgetragen und den Gehalt an Elementen wie Magnesium und Phosphor gemessen. Diese Elemente schwanken im Jahresverlauf, etwa infolge der Temperatur und der Stoffwechselaktivität des Fisches. Jedes Minimum in der Konzentration dieser Spurenelemente entspricht damit etwa einem Lebensjahr. Die Anzahl der Minima ergibt das Alter des Fisches, und aus den Abständen zwischen den Minima lassen sich die jährlichen Wachstumsraten rekonstruieren.

Maximale Größe hat sich halbiert

So stellte sich heraus, dass sich die maximale Größe des Ostseedorsches zwischen 1996 und 2019 von 115 auf 54 Zentimeter praktisch halbiert hatte. Die Durchschnittslänge sank von deutlich mehr als 40 Zentimetern auf 25 bis 30 Zentimeter. Besonders große Exemplare finden sich erheblich seltener als früher. Erreichte früher jedes zweite Tier erst mit 40 Zentimetern die Geschlechtsreife, erfolgt dieser Entwicklungsschritt heute bei 20 Zentimetern Körpergröße.

Nicht verändert hat sich allerdings das jugendliche Wachstum im ersten Lebensjahr. Weitgehend gleich blieb auch das Verhältnis von Gewicht zu Länge. Beides spricht dagegen, dass verschlechterte Umweltbedingungen wie Nahrungs- oder Sauerstoffmangel hinter dem Schrumpfen stecken könnten.

Weil das GEOMAR-Team genetische Ursachen vermutete, untersuchte es, welche Bereiche des Dorsch-Genoms mit dem Wachstum zusammenhängen. Als komplexe Eigenschaft ist das Wachstum nicht durch ein einzelnes Gen, sondern zahlreiche genetische Faktoren zugleich reguliert.

Insgesamt fand das Team 336 sogenannte SNPs – einzelne Basen des genetischen Codes, die durch eine Mutation verändert worden sind –, die damit zusammenhängen, wie schnell der Fisch wächst. Die Häufigkeit jener Varianten der SNPs, die zu einem geringeren Wachstum führen, nahm in Richtung Gegenwart kontinuierlich zu. Das deutet darauf hin, dass ein Selektionsdruck auf die Art wirkt und langsam wachsende Exemplare begünstigt.

Selektion durch Überfischung

„Wenn über Jahre hinweg bevorzugt die größten Tiere weggefangen werden, gibt das den kleineren, vergleichsweise schnell geschlechtsreifen Individuen einen evolutionären Vorteil“, erklärt Thorsten Reusch, Leiter des Forschungsbereichs Marine Ökologie am GEOMAR. „Was wir beobachten, ist eine durch Menschen ausgelöste Evolution – fischereiinduzierte Selektion. Das ist wissenschaftlich spannend, aber ökologisch natürlich hoch dramatisch.“

Die nun nachgewiesenen evolutionären Veränderungen können sich auch jetzt noch – wo der Fang verboten ist – negativ auf die Art auswirken und ihren Bestand bedrohen. Fachleute sprechen hier von „Darwinian Debt“, also Darwinscher Schuld oder auch evolutionärer Hypothek. Sie beschreibt die verzögerte evolutionäre Rückzahlung einer vom Menschen verursachten Anpassung.„Evolutionäre Veränderungen entstehen über viele Generationen, eine Erholung wird sehr viel länger dauern als der Niedergang, wenn sie überhaupt möglich ist“, erläutert Reusch. So sei bei Daten aus diesem Jahr trotz jahrelangen Fangverbots keine Erholung der Größenverteilung zu erkennen.

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Die Forscher fordern deshalb, bei Schutzmaßnahmen nicht nur darauf zu achten, ob sich Bestände zahlenmäßig erholen. Der Schutz sollte deutlich langfristiger angelegt sein und neben offensichtlichen biologischen Parametern auch genetische Faktoren in die Bewertung einbeziehen. „Unsere Ergebnisse zeigen, wie tiefgreifend menschlicher Einfluss auf das Leben von Wildpopulationen ist – sie reicht bis auf die Ebene des Erbguts“, resümiert Erstautorin Han. Doch auch im Positiven könnte der Mensch viel bewirken: Wenn wir sie richtig schützen, könnte die Ostsee wieder sehr lebendig werden – und mit ihr der Dorsch zu alter Größe gedeihen.

Zur Sache

Schrumpfende Lachse

Auch bei anderen Arten konnte die Forschung nachweisen, dass eine starke Befischung die Körpergröße verringert. Beim Lachs etwa konnten Forscher zeigen, dass der Selektionsdruck durch die Fischerei dazu geführt hat, dass die Tiere heute kleiner bleiben als früher.
Beim Lachs scheint jedoch vor allem eine Mutation im Gen vgll3 für die Veränderung verantwortlich zu sein. Das Gen reguliert zahlreiche andere Gene, die an Zellwachstum, Zelldifferenzierung und Hormonproduktion beteiligt sind. vgll3 ist dabei eine Art Schalter: Die alte Variante begünstigt eine späte Geschlechtsreife, die jüngere Mutation lässt Lachse früher reif werden. Letztere sind kleiner und damit wahrscheinlich besser vor Fanggeräten geschützt, was bei starker Befischung einen evolutionären Vorteil bedeutet.
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