Rund 50 Kilometer nördlich von Hannover sieht es vielerorts aus wie in der unberührten Natur Skandinaviens. Das fast 200 Quadratkilometer große Revier des Rodewalder Wolfsrudels ist dünn besiedelt, die Kreisstraßen wenig befahren. Hier gibt es Pferdehöfe, Hobby-Halter von Ziegen oder Alpakas sowie Landwirte, deren Kühe die Kälber noch auf der Weide zur Welt bringen. Doch seit im vergangenen Jahr sogar Rinder und Ponys vom neuen Wolfsrudel in der Region angegriffen wurden, wächst die Angst.
„Eltern lassen ihre Kinder nicht mehr allein im Wald spielen“, sagt Tobias Göckeritz, Vorsitzender des Landvolkes Mittelweser. Auf Göckeritz’ einsam gelegenen Hof ist an diesem Tag ein Experte, der ein Angebot für eine wolfsabweisende Einzäunung der Pony-Koppel sowie zweier Weideflächen machen soll.
„Um unsere Mini-Shettys haben wir richtig Angst. Auf die Weide dürfen die nicht mehr“, sagt der Landwirt auf dem Weg zu seiner Moorwiese inmitten eines Birkenwaldes. Direkt am Hof lag 2018 ein weißes Dammwild mit durchbissener Kehle ‒ gerissen vom Wolf. „Als Kinder haben wir alleine im Wald gespielt und Buden gebaut“, erzählt Göckeritz’ Tochter Philine Dieckmann. Ihren Töchtern, die erst dreieinhalb und eins sind, werde sie das wohl nicht erlauben. „Natürlich ist noch kein Kind angegriffen worden. Aber wer garantiert mir, dass das nicht passiert?“, fragt die Landwirtin.
Frist läuft am Sonntag aus
Bis Sonntag läuft die Abschussgenehmigung für den Leitwolf des Rodewalder Rudels. Obwohl das Tier streng geschützt ist, darf der Rüde mit der Kennung GW717m getötet werden, weil er wolfsabweisende Zäune überwunden und Rinder in einer Herde angegriffen hat. Voraussetzung ist, dass der Schütze im Auftrag des Landes ihn überhaupt finden kann. Das Umweltministerium hüllt sich zu seinem Vorgehen weiterhin in Schweigen. Auch lässt es offen, was passiert, wenn der Wolf bis Sonntag nicht zur Strecke gebracht worden ist.
Umweltminister Olaf Lies (SPD) beschwerte sich mehrfach darüber, dass die Suche nach dem Leitrüden gestört werde, etwa durch Leute, die mit Kameras durch den Wald laufen. Der Chef des Naturschutzbundes (Nabu) Niedersachsen, Holger Buschmann, spricht dagegen von erfundenen oder aufgebauschten Geschichten. „Unserer Ortsgruppe ist nicht bekannt, dass die Suche nach dem Wolf gestört wird.“
Das Töten des Leitwolfes wird die Angriffe nicht beenden ‒ darüber sind sich Wolfsgegner und -freunde ausnahmsweise einig. „Da jagt ja kein Einzelwolf, das funktioniert nur in der Gruppe“, sagt Göckeritz. Die Elterntiere hätten ihr Wissen an die Jungen weitergegeben. Auch Nabu-Chef Buschmann sieht in dem Abschuss keine Lösung.
„Wir schätzen die Situation des Rodewalder Rudels inzwischen auch kritisch ein, weil es gelernt hat, junge Kälber und Fohlen zu töten“, sagt er. Ärgerlich sei, dass man nicht von Anfang an überall wolfsabweisende Zäune aufgestellt beziehungsweise Herdenschutzhunde angeschafft habe. Knut Hallmann, Bürgermeister der Samtgemeinde Steimbke, sieht sich als Schnittstelle zwischen Wolfsgegnern und -befürwortern. „Die Stimmung ist ein Stück weit gereizt“, sagt der SPD-Politiker. Dies habe auch damit zu tun, dass die Menschen am Ort keinen Einfluss auf die Entscheidungen aus Hannover nehmen könnten. Die Rückkehr des Wolfes sei verständlicherweise mit Ängsten verbunden.
Von den Behörden alleingelassen
So wurde um den örtlichen Waldkindergarten ein rot-gelber Lappenzaun angebracht, um das „subjektive Sicherungsgefühl“ zu stärken. Es sei kein Kind abgemeldet worden, sagt Hallmann. Die Gefahr, von einem herunterfallenden Ast getroffen zu werden, sei weit größer. Hendrik Frerking hat im September auf einer Weide in Lichtenmoor ein sechsmonatiges Kalb verloren, das nach einem Biss in die Keule eingeschläfert werden musste.
Das angegriffene Tier hätte eigentlich durch seine Herde aus 30 Mutterkühen und 30 Kälbern geschützt sein müssen, heißt es in der Abschussgenehmigung für den Rodewalder Wolf. Dieser Selbstschutz einer Rinderherde ist allerdings unter Experten umstritten. Frerking besitzt 150 Mutterkühe. Er weiß momentan nicht, was er machen soll. „Wir müssten 30 bis 40 Kilometer Zäune aufstellen, auch in Naturschutzgebieten.“ Von den Behörden fühlt er sich oft alleingelassen. „Mir fehlt ein Gesamtkonzept.“
Nebenerwerbs-Landwirt Wilhelm Stuke hat bereits eine Weide neu einzäunen lassen. Sechs Stromdrähte sind es jetzt, der unterste nur 20 Zentimeter über dem Boden, damit die Wölfe sich nicht darunter durchzwängen können. Das Land fördert dies in den Gebieten mit Rissen vollständig, maximal mit 30 000 Euro jährlich. Arbeitskosten und die Wartung ‒ etwa das Mähen der Randstreifen ‒ werden nicht finanziert. „Wir haben den Zaun mit dem Nabu gebaut“, erzählt Stuke. Wolfsschützer helfen Tierhaltern ehrenamtlich.
Für Stuke ist die Tierhaltung nur Hobby: Acht seiner 28 Mutterkühe will er abschaffen. Kollegen hätten wegen des Wolfes schon komplett aufgegeben, berichtet er. Der Bauer deutet nach Osten ‒ dort bei Laderholz gab es am 28. Februar einen Angriff auf die Herde eines Wanderschäfers. Laut Ministerium wurden elf Schafe getötet ‒ ob der Rodewalder Wolf zuschlug, steht noch nicht fest. „Die Schafe sind in alle Richtungen weggerannt“, erzählt Stuke. „Eins stand außen vor meinem wolfssicheren Zaun, vielleicht wollte es rein.“