Ein Bauernhof mit Solarpanel, umgeben von weitläufigen Feldern, ein wolkenverhangener Himmel – irgendwo in Niedersachsen, nicht weit von Bremen. Dietmar Blendermann stapft auf eine Voliere aus Tannenholz zu. Innen: ein vielstimmiges Gurren, ein fiepsiges Piepen, das Rauschen schlagender Flügel. Krallenbesetzte Füßchen trippeln über das Holz.
Rund hundert Tauben hausen im Garten von Blendermann, immer paarweise in einem Nest. Zwei Ringe schlingen sich um die runzligen Beine der Tauben. „Die schwarzen Ringe sind Computerringe, mit einem Chip. Kommen die Tauben nach Hause, wird das am Taubenschlag registriert“, sagt der Experte Blendermann. Denn die Tiere des 51-Jährigen sind Brieftauben – bis zu 600 Kilometer legen sie bei Flugrennen zurück. In Transportboxen bringen Spezial-Lastwagen sie zusammen mit Hunderten Artgenossen an einen Aufflugort. Bei manchen Rennen steigen um die tausend Vögel auf einmal in die Lüfte – da verdunkelt sich der Himmel, sagt ein Züchter. Entferntester Startpunkt für Blendermanns Tauben: Basel, in der Schweiz.

Der Taubenschlag von Dietmar Blendermann befindet sich in Grasberg.
Ein magischer Moment ist es für den Züchter, wenn seine Tauben nach ihrer langen Reise zurück nach Grasberg finden. „Früher war ich Bäcker“, sagt Blendermann. Trotz Wecker in den Morgenstunden sei er nicht ins Bett gegangen, bis die Tauben zurückkehrten. „Man will die Ankunft sehen, dafür macht man das.“ Namen tragen seine Tauben nicht, nur Nummern. Eine Verbundenheit zu den Tieren spürt der Züchter trotzdem. Die 469 etwa, eine Täubin mit Rotstich im Gefieder, hüpft gerne auf seine Hand, krabbelt den Rücken hoch, beißt spielerisch in einen Finger. Da sei eine Gegenseitigkeit, sagt Blendermann.
Nicht alle seine Tiere kehren aus den Lüften zurück. Ein Feind der Züchter hebt sich manchmal als dunkle Silhouette vom Himmel ab, entfernt sich im Auf und Ab der Schwingen. Vor ein paar Jahren erbeutete ein Sperbermännchen Blendermanns Liebling, die 180. Mit schweren Verletzungen entdeckte der Züchter Beute und Jäger unter einem Balken. Und konnte einen seiner schnellsten Flieger noch einmal vor dem Gefressenwerden bewahren. „Der Tierarzt hat ihn mit Nadel und Faden wieder zusammengeflickt“, sagt Blendermann, „seitdem ist die 180 in der Zucht.“

Eine Taube erhebt sich aus der Vogeltränke.
Über Leben und Sterben entscheidet der Grasberger auch anderweitig. Exemplare, die zu langsam fliegen, behalten Taubenzüchter meist nicht. „In jeder Zucht wird selektiert“, sagt Blendermann. „Beim Hund, beim Pferd...“ So landen einige von Blendermanns Tauben bei Freunden im Kochtopf. Oder beim Falkner, als Futter für Raubvögel.
15 Kilometer weiter, ein anderer Garten, eine ähnliche Taubenvoliere. Hans-Peter Bammann ist Vorsitzender der Brieftauben-Reisevereinigung, der auch Blendermann angehört. Tierschützer sehen den Brieftaubensport als Misshandlung, ein Hauptvorwurf: Die Tiere könnten die langen Strecken körperlich kaum bewältigen. Wie sieht er das? „Ich habe noch keine Taube erlebt, die nach einem Flug so erschöpft war, dass ich sie reinnehmen musste“, sagt Bammann. Seine Vereinigung gebe den Tauben eine Ruhepause von vier Stunden, wenn ihr Lkw den Abflugort erreiche. Damit die Vögel sich beruhigen und akklimatisieren können. Bammann sagt: „Wildtauben ziehen auch hin und her, sind in Bewegung. Die Tiere wollen fliegen!“ Er selbst züchte mittlerweile nicht mehr für die Rennen. Ihn motiviere die Haltung, der Umgang mit den Tieren, so Bammann.

Die Fußringnummer dient zur Wiedererkennung.
Das Brieftaubenjahr richtet sich nach den Jahreszeiten, derzeit haben seine Tiere noch Pause. Die Reisetauben bebrüten ihre Eier, Ostern bis Mitte April starten die ersten Trainingsflüge. Und ab Mai wird es ernst – mit dem näherkommenden Sommer starten die ersten richtigen Rennen der Saison.