Nüchtern betrachtet, ist das Ziel fast erreicht. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hatte mit dem Deutschen Hockey-Bund (DHB) ausgehandelt: Eine Medaille sollte mindestens herauskommen beim Pariser Turnier, dazu noch einmal Viertelfinale. So berichtet es Martin Schultze, der lange Zeit als Geschäftsführer und Cheftrainer in Bremen gearbeitet hat und auch immer noch in Achim wohnt, inzwischen aber Sportdirektor beim DHB ist. Die deutschen Hockey-Herren stehen nach einem 3:2 am Sonntagabend gegen Argentinien im Halbfinale, sie haben jetzt zwei Chancen auf eine Medaille. Die deutschen Damen, genannt "Danas", hatten das Viertelfinale erreicht – und schieden dort am Montagmittag nach aus.

"Und wenn man dann im Penaltyschießen vier Versuche verschießt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn man nicht ins Halbfinale kommt": DHB-Sportdirektor Martin Schultze.
Nicht nüchtern betrachtet, war dieses Ausscheiden in Colombes, nordwestlich von Paris, ein einziges Drama. Es wollte zunächst auf keiner Seite ein Tor fallen, trotz etlicher Möglichkeiten dazu. Dreieinhalb Minuten vor Schluss kam die vermeintliche Erlösung für die Spielerinnen von Bundestrainer Valentin Altenburg, der im Vorfeld etwas überraschend die Bremer Spielerin Lena Frerichs nicht nominiert hatte, und die Bremerin Emma Davidsmeyer nur in den Reservekader berief.
Ein weiter Ball, ein Sturmlauf aufs Tor, ein klares Foul der Torhüterin: Deutschland erhielt einen Strafstoß. Viktoria Huse, die Braunschweigerin, die in der Bundesliga wie Emma Davidsmeyer für den Club an der Alster spielt, verwandelte ihn zum 1:0. Die Tür zum Halbfinale stand weit offen. Doch anderthalb Minuten vor der Schlusssirene brüllten die argentinischen Spielerinnen vor Freude. Die blau-weiß gestreiften Fans im Stadion Yves du Manoir brüllten sowieso. Ausgleich. Ein Penalty-Schießen musste schließlich entscheiden: Medaillentraum oder Turnier-Aus.
"Was gestern gut gelaufen war, ist heute verkehrt herum gewesen", sagte Schultze dem WESER-KURIER. Die "Danas" hätten die letzten zwei Minuten der K.o.-Partie nicht ruhig genug heruntergespielt. "Und wenn man dann im Penaltyschießen vier Versuche verschießt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn man nicht ins Halbfinale kommt", sagte der langjährige Trainer des Bremer HC. Ein deutscher Penalty-Versuch, durch Anne Schröder, landete zwar im Tor. Nach Videoentscheid wurde er aber nicht gewertet. Die Spielerinnen hatten jeweils acht Sekunden Zeit, um den Ball im Tor unterzubringen beim Anlauf von der weißen Linie aus. Schröders geglückter Torschuss war minimal über der Zeit. Er hätte den Ausgleich zum 1:1 bedeutet, danach fiel das vorentscheidende 2:0 für Argentinien durch die dritte Schützin. Das wiederum bedeutete: Als nächste Spielerin musste Sonja Zimmermann zwingend treffen, um Deutschlands Chancen zu wahren. Zimmermann scheiterte. Die DHB-Spielerinnen sanken zu Boden.
Martin Schultze war neben Trainer Altenburg anschließend der einzige deutsche Vertreter, der in der Interviewzone auftauchte. Von den Spielerinnen hatte nur Jette Fleschütz den Weg zur Kabine an den Reportern vorbei gewählt. Sie weinte. Die anderen Spielerinnen waren voller Enttäuschung direkt in die Kabine gegangen. Die Enttäuschung sei gerade zu groß, es werde für ein schnelles Statement jetzt niemand von den Spielerinnen herauskommen, sagte eine DHB-Sprecherin.
Valentin Altenburg sagte: „Dass wir die Kleinigkeiten, die den Unterschied gemacht haben, nicht besser machen konnten, nervt tierisch. Deswegen bin ich mit dem Ergebnis auch sehr unzufrieden.“ Es wäre "scheißegal" gewesen, "wie wir ins Halbfinale einziehen. Alles, was wir gemacht haben, war darauf ausgelegt, zu gewinnen. Deswegen ist die Zufriedenheit am Boden.“
Die Spielerinnen würden jetzt nichts hören, sagen, sehen wollen, sagte Martin Schultze im Gespräch mit dem WESER-KURIER. "Da nützen jetzt keine Reden, die wollen allein gelassen werden, das muss jede für sich selbst verarbeiten." Was das Spiel anbelangt, hatte er auch große Unterschiede zwischen dem Männer-Sieg am Sonntag und dem Frauen-Aus am Montag ausgemacht. Am Sonntag hätte es "mindestens sechs, sieben Fehlentscheidungen grober Natur durch die Schiedsrichter" gegeben. Sechs Minuten vor dem Ende hatte Justus Weigand das 3:2 für Deutschland erzielt. Danach musste das Team noch drei argentinische Strafecken überstehen, ehe der umjubelte Halbfinaleinzug feststand.
An diesem Dienstag spielt die deutschen Herren-Nationalmannschaft, die bei Olympischen Spielen bereits elf Medaillen geholt hat, davon vier goldene, gegen Indien um den Einzug ins Endspiel (19 Uhr). Zuletzt hatte es in Tokio erstmals in diesem Jahrhundert kein deutsches Edelmetall in der Erfolgssportart Hockey gegeben. 2016 in Rio hatten sowohl die Herren als auch die Damen Bronze geholt.
Am Montag sei es im Gegensatz zum Sonntag "top" zugegangen, was Schieds- und Videogericht anbelangt, sagte Martin Schultze. Mit einer Ausnahme: Beim deutschen 1:0durch den Strafstoß hätte es aus seiner Sicht beim Foul der argentinischen Torhüterin eine Gelbe Karte für sie geben müssen. Das sei die einzige Fehlentscheidung in der Partie gewesen. Argentinien hätte dann allerdings in den Schlussminuten in Unterzahl und ohne Torfrau spielen müssen. "Das wäre in der Phase schon spielentscheidend gewesen", sagte Martin Schultze. Am Ende blieb nur der Konjunktiv.