Um zu verstehen, wie besonders eine Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land ist, muss man zurückblicken: Als Deutschland zuletzt Gastgeber dieses Turniers war, gab es noch Ost und West. Von der Wiedervereinigung wurde nur geträumt. Im Sommer 1988 war das. Der Teamchef der Nationalmannschaft hieß Franz Beckenbauer, von Werder waren die Haudegen Uli Borowka und Gunnar Sauer nominiert – und der Gegner, den Europameister Niederlande im Finale mit 2:0 besiegte, hieß noch Sowjetunion.
Es ist also eine seltene Ehre, Gastgeber des großen Fußballfestes zu sein, das an diesem Freitag mit dem Auftaktspiel der deutschen Mannschaft gegen Schottland beginnt. Die Europameisterschaft wird zwar nicht die Dimensionen der Sommermärchen-WM von 2006 erreichen, als die ganze Welt zu Gast bei Freunden in Deutschland war. Aber für viele der 24 Nationen, die in den kommenden vier Wochen um den Titel spielen, fühlt sich diese EM wie eine Rückkehr in die gute alte Zeit an – etwas Normalität nach schwierigen Jahren. Es ist ein Turnier, wie es früher einmal war: nur in einem Land, ohne Diskussionen über Menschenrechtsverletzungen, dafür wieder mit vollen Stadien. Das alles war in jüngerer Vergangenheit so nicht möglich gewesen.
Corona trübte die letzte EM
Bei den Weltmeisterschaften 2018 in Russland und 2022 in Katar kam nicht wirklich das Gefühl auf, bei Freunden zu Gast zu sein. Und die letzte Europameisterschaft, die für 2020 geplant war, musste wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben werden. 2021 fand sie dann statt, aber verstreut über den Kontinent mit Spielen in zehn Städten sowie im asiatischen Baku, was noch auf eine absurde Idee des einstigen Multifunktionärs Michel Platini zurückging. Wegen der Pandemie war die Auslastung der EM-Stadien total unterschiedlich. Geimpft, getestet, nicht mehr als 12 Stunden im Land – das waren oft die Kriterien, um ein Spiel in halb vollen Stadien erleben zu dürfen.
Im Vergleich zu alledem hoffen Fans und Mannschaften nun auf Normalität. Der Sport und die gemeinsame Freude am Fußball sollen im Vordergrund stehen. Aber es ist auch ein Großereignis in schwierigen politischen und wirtschaftlichen Zeiten. Im besten Fall soll der Fußball etwas zur Besserung beitragen. Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Sportsenders Sky hoffen 85 Prozent der Deutschen auf mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt durch die Europameisterschaft. 31 Prozent tippen auf einen Finaltriumph der deutschen Mannschaft.
DFB-Team ist eine Wundertüte
Die Last auf den Schultern der Spieler ist groß. Eine Aufgabe, die mit Leben gefüllt werden muss. Mittelfeldspieler Toni Kroos betonte, die Mannschaft trage in den kommenden Wochen eine große Verantwortung für die Stimmung im Land. Kroos selbst, der seine Karriere nach der EM und nach sechs Champions-League-Titeln beenden wird, steht sinnbildlich für die enorme Skepsis und die gleichzeitige Vorfreude, die das Nationalteam vor dem ersten Spiel begleiten: Die deutsche Mannschaft wirkt wie eine Wundertüte, alles scheint möglich.
Kroos war als Schlüsselspieler dabei, als die Mannschaft mit schwachen Spielen bei der WM 2018 in Russland und bei der EM 2021 unterging. In Katar und danach machte das Team ohne ihn schlecht weiter. Jetzt gilt Kroos, bei Real Madrid mit unzähligen Titeln dekoriert, im Prinzip als größter Hoffnungsträger: Mit der Rückkehr des Regisseurs sollen wieder große Darbietungen auf der internationalen Bühne gelingen.
Nüchtern betrachtet, wäre schon das Überstehen der Gruppenphase mit den Gegnern Schottland, Ungarn und Schweiz ein erster Erfolg. Danach könnte die Mannschaft von der Euphorie im Land getragen werden, ähnlich wie 2006. Aber klar ist auch: Die Konkurrenz ist groß und stark. Mindestens ein halbes Dutzend Mannschaften gelten als besser und damit als Turnierfavoriten.
Der bisher letzte deutsche EM-Titel von 1996 zeigt, dass nicht alles optimal laufen muss, um zu triumphieren. Damals ging so ziemlich alles schief, reihenweise fielen wichtige Spieler aus. Aber statt zu jammern, entstand ein Team mit echten Typen. Entsprechend hat Bundestrainer Julian Nagelsmann nun seinen EM-Kader bestückt: Mehr Mentalität statt Qualität – um wieder mehr Erfolg zu haben.