Erstaunlich am Auftreten der Fußball-Nationalmannschaft ist nicht nur, dass sie beim 2:2 in den Niederlanden einem Top-Gegner ebenbürtig war – sondern vor allem, wie schnell sich ihr Bild gewandelt hat. Es ist nur ein Jahr her, da lag die deutsche Mannschaft in Trümmern. Nach einem 1:4 gegen Japan im September 2023 wurde Hansi Flick als Bundestrainer entlassen. Die Sorge war groß, die Heim-EM könnte – wie die vorangegangenen Turniere – in einem Desaster enden.
Dann trat Julian Nagelsmann seinen Dienst an und verpasste dem Nationalteam eine Radikalkur. Dass es so nicht weitergehen konnte wie unter dem überfordert wirkenden Flick, darüber war sich Nagelsmann früh klar und hatte damit eine gemeinsame Basis mit den Fans, die schon genervt waren von immer neuen Niederlagen und leidenschaftslosen Partien. Nach guten Auftritten bei der EM und den absolvierten Spielen der Nations League gegen die Niederlande und Ungarn (5:0) darf man attestieren: Nagelsmanns Idee einer neuen Nationalmannschaft scheint zu funktionieren. Nicht nur die Ergebnisse stimmen, sondern ebenso das Auftreten der Spieler und das Interesse der Fans.
Dieser Umbruch verlief nicht ohne Rückschläge. Versuch und Irrtum bestimmten Nagelsmanns Tun. Anfangs wirkte er zudem erschlagen von der Auswahl an hervorragend ausgebildeten Spielern, die in der Theorie einen guten Kader bilden könnten, die in der Praxis aber nicht als Team funktionierten. Hier setzte er an, indem er die Mentalität und Einsatzbereitschaft im DFB-Trikot höher gewichtete als das fußballerische Können.
So erspielten sich kämpferische Typen wie Robert Andrich und Pascal Groß Stammplätze. Neben dem Kombinationsfußball der filigranen Jungstars Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kai Havertz bilden sie den wichtigen Gegenpol für die Balance des Teams. Solche Typen auf dem Feld zu haben, erhöht zudem die Widerstandsfähigkeit nach Rückschlägen. Wie in Amsterdam: Trotz des frühen Gegentores machte die deutsche Mannschaft ein gutes Spiel, sie fiel nicht mehr auseinander.
Nagelsmann nutzt psychologische Kniffe, um verkrustete Denkstrukturen aufzubrechen. Dabei orientiert er sich an den Besten der Welt: Für die EM schaute er sich die Strategie der deutschen Basketball-Weltmeister ab, bei denen jeder vor dem Turnier seine Rolle kannte – vom Stammspieler bis zum Ersatzmann. Neuerdings sind die Fußball-Europameister aus Spanien das Vorbild: Weil die vor ihrem EM-Triumph die Nations League gewannen, hat Nagelsmann gleich mal aufgeräumt mit dem deutschen Denken, dies sei ein unnötiger Wettbewerb, den keiner versteht. Nun heißt es: In der Nations League lernt man das Gewinnen und ist dadurch bereit für große Titel.
Kurzfristig setzte der Bundestrainer auf Notlösungen, indem er Toni Kroos für die EM reaktivierte. Dass er etwas aufbauen will, zeigt sich daran, dass er Manuel Neuer diese Möglichkeit nicht gewährte, zwei Jahre auszusetzen und erst zur WM 2026 wieder mitzuwirken. Marc-Andre ter Stegen bleibt im Tor.
Auch spielerisch entwickelt sich die Mannschaft. Das zielsichere Auslösen des Pressings funktionierte gegen die Niederländer so gut wie das Überlagern der Flügel. Das hilft enorm, um Torchancen zu bekommen. Die Spieler setzen das gerne um, die oft kritisierte Lustlosigkeit im DFB-Trikot ist einem spürbaren Spaß am attraktiven Fußball gewichen. Nagelsmann lebt vor, dass gute Ergebnisse wichtiger sind als gut gemeinte Experimente. So hält er Fans und Spieler unter Spannung.
Auch hier bedient er sich einfacher Mittel: Die elf Besten spielen, es wird nicht rotiert. Zu den Besten zählten erstmals keine Weltmeister von 2014 mehr, auch Kapitän Ilkay Gündogan ist zurückgetreten. Die Auserwählten sollen jedes Länderspiel pflichtbewusst mit Freude angehen, statt solche Spiele mitten in der Liga-Saison als lästige Pflicht abzuspulen. Nimmt man die Rasanz der bisherigen Entwicklung unter diesem Bundestrainer als Maßstab, könnte Deutschland bei der WM 2026 tatsächlich zu den Titelkandidaten gehören.