Als der alte Fußball und der visionäre Ralf Rangnick zum ersten Mal aufeinanderprallten, war der Raum voller Rauch. Auf der einen Seite des Schreibtisches saß der Schalker Manager Rudi Assauer. Auf der anderen der deutlich jüngere Fußball-Revoluzzer Rangnick, der gerade dabei war, den schlafenden Riesen Schalke 04 zu wecken. Auf einem Abstiegsplatz hatte Rangnick die Mannschaft als Trainer übernommen, binnen weniger Monate wurden sie Vizemeister und spielte in der Champions League. Doch Rangnick wollte mehr. Er bastelte am Schalke der Zukunft und forderte von Assauer: „Rudi, wir brauchen unbedingt einen Right-back.“
Für Rangnick, der während seiner Lehrerausbildung einst in England studierte und seinen Hang zu Fremdwörtern nur schwer unterdrücken kann, war die Sache klar: Er wollte einen Rechtsverteidiger verpflichten. Assauer nahm ein paar Züge an der Zigarre, dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Vergiss es, mit Engländern haben wir in der Bundesliga keine guten Erfahrungen gemacht.“
Diese Anekdote, die im Jahr 2005 spielt, haben sie danach auf Schalke gerne erzählt und laut gelacht. Heute dürften viele Schalker verstanden haben, dass es gar nicht so lustig war, vor allem nicht aus Sicht des Vereins: Denn heute steckt Schalke in der zweiten Liga fest, während Rangnick seit einer Woche Manchester United trainiert, den größten Fußballklub der Welt.
Dass er dort nun einen Superstar wie Cristiano Ronaldo anleiten darf, hängt dennoch eng mit Rangnicks Erlebnissen auf Schalke zusammen. Denn die Zeit beim Revierklub war so etwas wie Rangnicks Verwandlung, vielleicht sogar seine Erleuchtung. Bis dahin war er in Deutschland eher als Taktik-Nerd betrachtet worden. „Der Professor“, so nannten ihn viele in der Bundesliga, weil Rangnick als junger Trainer des SSV Ulm im ZDF-Sportstudio einst die Viererkette erklärt hatte. Ausgerechnet er, der Lehrer mit der Brille, der keine große Spielerkarriere vorweisen konnte - damals erschien das fast schon skandalös.
Nach Schalke war Rangnick eher zufällig gekommen, weil Assauers Assistent Andreas Müller mal ein sehr durchdachtes Training von Rangnick bei Hannover 96 gesehen hatte und seither davon schwärmte. Da Assauer „den Professor“ aber nicht mochte, musste Rangnick erst mal zum Vorstellungsgespräch kommen. Danach war auch der legendäre Manager baff: „Wie mit einem Skalpell“ habe Rangnick den Schalker Kader sezieren können.
Bei der offiziellen Präsentation nannte Assauer den neuen Trainer trotzdem lieber „Rolf“, was Rangnicks neuer Spitzname wurde. Der neue Trainer ging danach in die Kabine und brauchte nur einen Satz, um die mit Stars wie Asamoah oder Sand bestückte Mannschaft für sich zu gewinnen: „Ich wollte schon immer so gute Spieler trainieren.“ Rangnick war nun im großen Fußball angekommen und holte viele Siege, doch die Beziehung zu Assauer blieb schwierig: „Der oder ich“, so sahen das im Prinzip beide, und dann wurde es noch sehr viel komplizierter: Der Macho-Manager konnte sein Alkoholproblem nicht mehr verstecken. Rangnick, der sich aus familiären Gründen damit auskannte, wollte helfen. Doch kein anderer im Verein wagte es, dieses heiße Eisen anzupacken, aus Angst vor Assauers mächtigen Freunden bei den Boulevardmedien.
Rangnick reagierte fassungslos und musste erleben, wie ihn der Boulevard nach jeder Niederlage zum „Rangnix“ machte. Frustriert verkündete er, Schalke am Saisonende zu verlassen. So kam es zu einer der denkwürdigsten Szenen der Bundesligageschichte: Die Fans feierten ihn beim nächsten Heimspiel so sehr, dass Rangnick noch vor dem Anpfiff applaudierend eine Ehrenrunde in der Schalker Arena drehte. Der Verein wertete das als Affront und warf ihn zwei Tage später raus.
Diese Erfahrungen haben Rangnick geprägt. Genau deshalb wollte er sich fortan von niemandem mehr abhängig machen. Als alleiniger Macher, als Trainer und Manager, führte er danach die TSG Hoffenheim binnen drei Jahren von der Regionalliga bis an die Spitze der Bundesliga. Als sich der Mäzen Dietmar Hopp mit dem Verkauf des Brasilianers Luiz Gustavo zum FC Bayern ins Tagesgeschäft einmischte, schmiss Rangnick hin.
Als es ihn wieder zu seiner großen Liebe Schalke zog, unter einem neuen Vorstand, kam es zu einem Problem, das heute wegen Cristiano Ronaldo auch in Manchester thematisiert wird: Schalkes Superstar hieß Raul, und Rangnick stellte emotionslos fest, dass so ein gealterter und langsamer Spieler nicht in sein System passe. Die Vereinsführung bekam Schnappatmung, und großes Theater blieb nur deshalb aus, weil Rangnick wegen eines Burn-outs zurücktreten musste: Er hatte sich übernommen mit seinem Trieb, jeden und alles immer besser machen zu wollen. Rangnick musste sein Leben umstellen, die Ernährung und seine unruhige Art.
Kaum wieder erholt, meisterte er das nächste Großprojekt: Brause-Milliardär Dietrich Mateschitz brauchte einen Experten, der seinen ambitionierten Zielen mit RB Leipzig endlich Flügel verleiht – und beauftragte Rangnick. Der setzte das viele Geld wie schon in Hoffenheim klug ein und führte auch diese Mannschaft von der Regionalliga bis in die Bundesligaspitze, erst als Manager, dann als Trainer.
So geriet Rangnick in den Fokus internationaler Klubs und Investoren, die keine weiteren Millionen mehr im Fußball verbrennen wollten. Mit dem AC Mailand stand eine Einigung bevor, doch dann beklagte Vereinslegende Paolo Maldini, dieser Rangnick aus Deutschland wolle „die ganze Macht“ im Verein, man stehe vor einem „respektlosen Platzsturm“. Rangnick winkte ab und wollte lieber als Löw-Nachfolger Bundestrainer werden. Das sei schließlich vor allem eine Sache des Timings, meinte er selbstbewusst, „und ich bin frei“. Doch DFB-Manager Oliver Bierhoff holte lieber den weniger unbequemen Hansi Flick.
Das war die Chance für Manchester United, den taumelnden Weltklub aus England. Für drei Jahre nahm man Rangnick unter Vertrag. United hat einen XXL-Etat und viele Stars, aber keinen Erfolg. Das ist genau Rangnicks Ding, der seit seinen Studienzeiten vom englischen Fußball schwärmt. Für ihn ist es die Erfüllung eines Traums, wie damals auf Schalke.
In der britischen Presse dreht sich nun viel um die ungewöhnliche Vita des 63-Jährigen. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob das mit ihm und Cristiano Ronaldo klappen kann - sondern auch um eine Anekdote aus Rangnicks schwäbischem Heimatort Backnang, die er in England erzählte. Es war so: Als Mateschitz ihn in Backnang aufsuchte, gab es bei Rangnicks daheim keinen Landeplatz für den Hubschrauber des Brause-Milliardärs. Deshalb musste der ein paar Straßen entfernt auf dem Anwesen von Andrea Berg landen, „einer berühmten deutschen Sängerin“, wie Rangnick auf Englisch erklärte. Berichtet wurde das in England so: „Mateschitz landete in Andreasberg, einer berühmten deutschen Stadt.“ Er ist halt doch noch nicht alle Probleme losgeworden, die ihn einst auf Schalke plagten…