Es begann in Kolumbien. Der deutsche Sportsoziologe Jürgen Griesbeck lebte damals aus beruflichen Gründen in dem südamerikanischen Land, als kurz nach der Fußball-WM 1994 der Nationalspieler Andres Escobar in einer Bar von Medellin mit sechs Schüssen vom Leibwächter eines Drogenbosses getötet wurde. Escobar hatte bei der WM ein Eigentor gegen den Gastgeber USA fabriziert. Kolumbien verlor das Spiel und schied aus dem großen Turnier aus. Das Eigentor soll der Grund für die Tötung gewesen sein, die einer Hinrichtung gleichkam. Den Soziologen trieb die Frage um, was man dieser Gewalt entgegensetzen könne. Eine Antwort war: Fußball.
Zu einem Schlüsselerlebnis wurde dabei, so erzählt es Griesbeck, eine zufällige Beobachtung auf einem Bolzplatz in Medellin. Zwei verfeindete Jugendbanden seien zum Platz gekommen, hätten ihren Waffen abgelegt – und miteinander gekickt. Hinterher hätten sie wieder ihre Waffen genommen und später aufeinander geschossen. Im Moment des Spiels waren sie keine Feinde, sie waren, wissenschaftlich betrachtet: eine Sozialgemeinschaft. „Wie kann man das verbinden? Fußball, der Profit macht und Fußball, der eine soziale Wirkung hat?“ Das sei eine Kernfrage für ihn geworden, sagt Jürgen Griesbeck, der mittlerweile Mitte 50 ist und in Berlin lebt. Er gründete vor gut 20 Jahren Streetfootballworld. Seit rund sieben Jahren ist das größte Ding dieses Sozialunternehmens Common Goal. Wörtlich übersetzt: gemeinsames Ziel oder Tor.
Viele prominente Spieler oder Figuren aus dem Fußball machen mit. Die Grundidee von Common Goal ist, dass ein Prozent des Einkommens für soziale Projekte und Programme gespendet wird. Der Spanier Juan Mata, damals Profi von Manchester United, war als Erster dabei, inzwischen gibt es eine stattliche Liste von Fußballgrößen, die sich angeschlossen haben. Kult- und Erfolgstrainer Jürgen Klopp zum Beispiel, deutsche Nationalspieler wie Serge Gnabry und Timo Werner oder auch die amerikanische Weltmeisterin Megan Rapinoe.
Und seit knapp zwei Jahren macht auch der SV Werder mit. Als Einzelpersonen spenden alle vier Mitglieder der Geschäftsführung (Klaus Filbry, Frank Baumann, Tarek Brauer, Anne-Kathrin Laufmann) ein Gehaltsprozent, dazu Präsident Hubertus Hess-Grunewald sowie zwei Spielerinnen (Saskia Matheis und Reena Wichmann). Als Ganzes spendet der Klub jährlich ein Prozent der Zuschauereinnahmen an Common Goal. Rund 400.000 Euro seien das, sagt Klaus Filbry. Ein Teil der Spenden fließt wieder zurück, zur Finanzierung der grün-weißen Spielraum-Projekte (siehe Interview mit Anne-Kathrin Laufmann).
Wenige Tage vor seinem 125. Geburtstag hat der Bremer Traditionsverein jüngst zu einer Abendveranstaltung im Zeichen von Common Goal in die „Grüne Bude“ eingeladen, eine Art Hausboot nahe der Kaisen-Brücke. Der Abend sollte mehr sein als ein sogenanntes gemütliches Beisammensein von Profis, Ex-Profis, Spielerinnen, Vereinsangestellten, Funktionären oder Spielraum-Mitwirkenden. Verschiedene Workshops waren für den Ideenaustausch gedacht, eine Podiumsdiskussion für die Vertiefung und wohl auch Werbung für die Common-Goal-Idee. Zu Gast auf dem Podium war neben dem ehemaligen Werder-Profi und Aufsichtsrat Marco Bode, der Leiter Nachhaltigkeit und Soziales beim Basketball-Profiklub Alba Berlin, Igor Ryabinin, und Bundesliga-Spielerin Saskia Matheis.
Recht schnell und recht anschaulich wurde in der Podiumsdiskussion klar, wie viel Common Goal schon geschafft hat, wie viel andererseits noch nicht geschafft wurde – und vor allem, worum es den Protagonisten im Kern geht. Dass Common Goal kein in sich geschlossenes Projekt ist, sondern eine Bewegung, quasi etwas Kulturelles. Erst, wenn es zur Normalität gehöre, dass ein Prozent für Sozialprogramme hergegeben werde, sei man da, wo man hinwolle. Wenn, wie Marco Bode es vorschlug, auch ein Prozent aus den Medienerlösen der Bundesliga aufgebracht werden würden für die gemeinsame Sache. „Es gibt viele Gründe, nichts zu machen“, sagte Igor Ryabinin. Wichtig wäre aber, „den Status quo zu verändern“.
Zum Status quo gehört, dass etliche der teilweise exorbitant verdienenden Profis mehr an Luxusautos interessiert sind als an Fragen des sozialen Engagements.
Jürgen Griesbeck sagt: „Ein Prozent ist wenig, und es würde nur etwas verändern, wenn das der neue Status quo wird.“ Dieser Sozialfaktor sollte „nicht als Klimbim, sondern als Chance“ angesehen werden, sagt Marco Bode, der sich seit vielen Jahren in Sozial-Programmen wie Schach macht Schule engagiert. Bode weiß nur zu gut, wie schwierig das ist, alle von der eigenen sozialen Verantwortung zu überzeugen, die das SV im Vereinsnamen auch bedeuten soll.
Das sei schon damals in der Kabine so gewesen, sagt er. Auch Igor Ryabinin kann das von den Berliner Basketball-Profis berichten. Doch es habe sich rückblickend auch schon jede Menge getan, weltweit und in Deutschland. Alba und Werder kooperieren mittlerweile, in Berlin sei zuletzt die Vernetzung von fünf Profiklubs gelungen, sagt Ryabinin. Die Bewegung wächst – und auch das Bewusstsein für die Frage: „Was kann ich der Gesellschaft zurückgeben?“ So hat sie Saskia Matheis, Fußballerin und Lehramtsstudentin, in der Podiumsdiskussion gestellt. Ein bisschen war man an einen berühmten Satz erinnert, der dem ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy zugeschrieben wird: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst.“