Während seiner großen Zeiten sorgte der SV Werder auf dem Rasen für ungläubiges Staunen – heute passiert das vor allem außerhalb des Spielfeldes. Man muss es leider so deutlich sagen: Seit zwei Jahren schon haben die sportlichen Entscheider im Klub nur wenige Gelegenheiten ausgelassen, um den einst tadellosen Ruf der Grün-Weißen zu ramponieren. Und wenn man sich die beiden jüngsten Wochen anschaut, wirkt es, als wollten sie dieses neue Image bei Werder zementieren. Ein vom Training suspendierter Star (Niclas Füllkrug), ein binnen weniger Wochen unter Druck geratener Trainer (Markus Anfang), nur ein Sieg in den letzten fünf Spielen (in der zweiten Liga) und dazu ein Management (Frank Baumann und Clemens Fritz), das einfach behauptet, es sei alles in Ordnung.

GRÜN AUF WEISS ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bundesligisten wirft, Zusammenhänge erklärt und die Entwicklungen im Verein einordnet.
Zur Überprüfung dieser Behauptung genügt ein Blick auf die untere Tabellenhälfte, wo Werder nach elf Spieltagen mit einer negativen Tordifferenz geführt wird. Wenn die Bundesliga-Rückkehr für diesen stolzen Verein inzwischen weiter entfernt ist als die dritte Liga, dann kann nicht viel in Ordnung sein. Im Gegenteil: In diesem stürmischen Herbst fällt bei Werder auf, dass sich ein Phänomen aus den Krisenjahren wiederholt, die geradewegs in die Zweitklassigkeit führten. Schon damals war der nördlichste Außenposten der Bundesliga dafür berüchtigt, dass hier die eigene Wahrnehmung nicht immer mit der Realität standhielt. Plötzlich hatte Werder einen Sturm, „um den uns die halbe Liga beneidet“ und auch „einen der besten Torhüter der Bundesliga“. Beides leider nur in Baumanns Worten, aber nicht auf dem Rasen. Sorgenvolle Fragen wegen des drohenden Abstiegs wurden geradezu hochnäsig weggewischt, schließlich gebe es noch viele Spiele, die man gewinnen könne und – natürlich – auch gewinnen werde. Das Ende ist bekannt: Trotz „der festen Überzeugung, mit Florian Kohfeldt die Klasse zu halten“, stieg Werder halt doch ab.
Die neuesten Werder-Wahrheiten knüpfen nahtlos dort an. Zum Beispiel, wenn Anfang nach der Niederlage in Darmstadt erklärte, nach dem Abstiegskampf würde die Mannschaft noch zu sehr nach hinten denken und zu wenig nach vorn spielen. Es brauche Zeit, das zu ändern. Fakt ist: In der Startelf standen bei diesem Debakel nur zwei Spieler, die im Abstiegskampf zum Stamm gehörten, Marco Friedl und Milos Veljkovic. Auch der ständige Hinweis auf die junge Truppe, der man Fehler verzeihen müsse, führt in die Irre: In allen Mannschaftsteilen gibt es reichlich Profi-Erfahrung, nur Ilija Gruev und Eren Dinkci kann man ausnehmen. Die anderen jüngeren Spieler sind keine Anfänger und übrigens nicht jünger als die Kollegen ihres Jahrgangs, die in der Bundesliga für Aufsehen sorgen. Felix Agu (22 Jahre), Manuel Mbom (21) und Lukas Mai (21) haben schon jeweils fast 70 Profispiele in den Beinen, bei Niklas Schmidt (23) sind es mehr als 150. Andere Stammkräfte wie Marvin Ducksch, Romano Schmid, Nicolai Rapp, Anthony Jung, Veljkovic und Friedl sind seit vielen Jahren als Profis unterwegs.
Viel zu viele Fehleinschätzungen
Das Problem: Solche Ausreden helfen Werder keinen Millimeter weiter. Sie beruhigen nur diejenigen, die nicht so genau hinsehen. Längst ist Werder von einem Spitzenklub zu einem Verein für Fehleinschätzungen geworden. Das fing ganz oben an, als Aufsichtsrats-Chef Marco Bode vor der Saison glaubte, mit seinem Rückzug würde er für Aufbruchstimmung sorgen. Und es fällt auf, dass kaum einer der Spieler irgendwo zündet, die Werder im Sommer verkaufte; in Bremen hielt man sie für ziemlich gut (nur Maxi Eggestein überzeugt in Freiburg). Das Dilemma endet folgerichtig bei Baumann, neuerdings in der Sportchef- und Märtyrer-Rolle, der wegen der jüngsten Unruhe ernsthaft wollte, dass man nur ihn kritisiere, statt kritisch über den Trainer und die Spieler zu berichten – als könne er sich das außerhalb seiner Werder-Welt aussuchen.
Vielleicht liegt das daran, dass der langjährige Mediendirektor Michael Rudolf den Osterdeich bereits verlassen hat und ab Januar beim 1. FC Köln als Visionär wirken soll. Für einen Mann wie ihn wurde die zweite Liga schneller zu klein, als man das bei Werder ahnte. Alle anderen im Verein können das noch nicht für sich reklamieren – sind nun aber gefordert, die Selbstverzwergung des Bremer Traditionsvereins zu stoppen. Objektiv unstrittig ist: Durch weitere Selbsttäuschung werden sie das nicht schaffen. Werder braucht Taten – und keine weiteren Ausreden oder Fehleinschätzungen.