Eigentlich ist die Sache klar. Der VfL Wolfsburg hat mehr Geld als Werder, mehr Nationalspieler im Kader und mehr Punkte in der Tabelle. Trotzdem könnte sich das Duell zwischen Werder und dem VfL am Sonntag im Weserstadion zu einer Partie auf Augenhöhe entwickeln. Aussichtslos ist die Lage aus Bremer Sicht nach den Entwicklungen der letzten Wochen nämlich längst nicht mehr.
Im Hause Skripnik stand am Donnerstag ein Fernsehabend auf dem Programm. Es wurde aber nicht das Europa-League-Spiel Sporting Lissabon gegen den VfL Wolfsburg gezeigt, sondern es lief ein russischer Film – „so ein Melodrama“, wie Viktor Skripnik erzählte. Seine Tochter hatte Freunde eingeladen, und Skripnik, ganz aufmerksamer Papa, hatte sich mit aufs Sofa gesetzt. Den Zusammenschnitt des Wolfsburger Weiterkommens gab es erst hinterher.
Viktor Skripnik und Werder Bremen werden es vermutlich verkraften können. Denn allzu viele neue Erkenntnisse hätte der Werder-Trainer aus dem Wolfsburger 0:0 auch bei einer Live-Übertragung in voller Länge wohl nicht gewonnen. Dafür kennt er den nächsten Gegner aus unzähligen Videoanalysen inzwischen zu genau, um nicht zu sagen: in- und auswendig.
Werder gegen Wolfsburg, in der Hinrunde noch das krasse Duell von Klein (Werder) gegen Groß (Wolfsburg) ist ein knappes halbes Jahr später ein Top-Spiel in der Bundesliga geworden. Wolfsburg ist zwar immer noch groß, vielleicht sogar noch ein Stückchen größer geworden. Aber Werder hat in Riesenschritten aufgeholt. Nimmt man nur die Spiele unter der Regie von Skripnik, dann hat Werder 26 Punkte geholt. Der VfL schaffte 28 in diesem Zeitraum. Beide Teams sind in diesem Jahr bei jeweils 13 Punkten noch ungeschlagen. Erfolgreicher ist 2015 keine andere Mannschaft in der Bundesliga.
Entsprechend ausführlich lobte Skripnik die Wolfsburger am Freitag, sprach von „Weltklasse-Fußballern“, einer „klasse Mannschaft, die zweitbeste von den Einzelspielern her“; davon, dass es „vorbildlich für ganz Deutschland“ sei, wie die Wolfsburger ihre Arbeit erledigen würden. Seit 14 Pflichtspielen hat Wolfsburg wettbewerbsübergreifend nicht mehr verloren.
Skripnik hätte weitere eindrucksvolle Fakten aufzählen können, um deutlich zu machen, dass der VfL zu einer absoluten Top-Kraft in Deutschland aufgestiegen ist. Der VfL zahlt seinen Spielern über 50 Millionen Euro an Gehalt im Jahr, bei Werder sind es gerade mal noch so um die 30. Beim VfL Wolfsburg wäre einer wie Zlatko Junuzovic, in Bremen zum Spitzenverdiener aufgestiegen, nicht einmal in der Top 10. Der VfL hat zwölf aktuelle Nationalspieler im Kader, bei Werder kommt man insgesamt auf neun, wenn man die ehemaligen Nationalspieler Clemens Fritz und Assani Lukimya mitrechnet.
Aber warum sollte Werder sich klein machen? „Es ist fantastisch, was da entsteht“, hat Wolfsburgs Trainer Dieter Hecking gesagt. Er selbst hat den unvergleichlichen Kevin De Bruyne in seinem Team, mit acht Toren und zwölf Vorlagen zweitproduktivster Spieler der Liga. Aber Werder hat auch so einen Typen, um den sich vieles dreht: Junuzovics Bilanz steht bei vier Toren und zehn Vorlagen. Auch nicht schlecht.
Ob Werder gegen Wolfsburg ein Spitzenspiel sei, wurde Skripnik am Freitag gefragt. „Das Top-Spiel ist, glaube ich, Dortmund gegen Schalke“, sagte Skripnik, „aber ja, das Wort Spitzenspiel gefällt mir.“ Werder ist wieder in. Die Liga nimmt immer mehr Notiz von den Bremern. Skripnik war jüngst zu Gast im Fußball-Talk „Doppelpass“, Junuzovic im „Aktuellen Sportstudio“, bei Sturm-Hoffnung Davie Selke reiht sich Interview an Interview. Sie alle müssen den Menschen erklären, warum das zwischenzeitlich so graue Werder immer bunter, schillernder, besser wird.
Wolfsburg ist bärenstark zurzeit. „Sind wir ja aber auch, oder?“, sagt Felix Kroos. Der defensive Mittelfeldspieler, seit drei Spielen Stammkraft, steht sinnbildlich für den Wandel. Kroos’ vierte Profisaison bei Werder ist seine beste bisher. So wie er auf dem Feld die Bälle fordert oder sie sich einfach holt, so machte er es am Freitag auch vor dem Gespräch mit den Journalisten. Die Reporter hatten gerade mit dem Fuß einen Schaumstoffschutz, der sonst über Mikrofone gestülpt wird, jongliert. Kroos machte kurzerhand einfach mit.
So viel Lockerheit war selten in den vergangenen Spielzeiten – und so viel Heimstärke auch schon lange nicht mehr. Seit „einer Ewigkeit“ habe man zu Hause nicht mehr verloren, sagte Kroos. Wolfsburg mag zurzeit Tabellenzweiter sein, „aber auch Leverkusen und Augsburg waren unter den Top 4, als sie hier antreten mussten.“ Und, sollte das heißen, und? Was haben sie im Weserstadion geholt? Genau: nichts.