Die Schlussminuten liefen schon im Weserstadion, als es eine interessante Szene gab: Werder führte mit 2:0 gegen Union, der erlösende Heimsieg war nach drei Niederlagen in Folge greifbar. Die Gäste drückten noch einmal mit aller Kraft. Werder verteidigte mit Mann und Maus, würde man jetzt normalerweise sagen, aber das wäre hier nun unpassend: Denn Werder verteidigte das eigene Tor eben nicht mit allen Mann, sondern ohne Rafael Borré. Die Szene war so: Union hatte einen Freistoß auf der rechten Seite, fast alle Spieler liefen nun vor das Bremer Tor, um sich für die Freistoß-Hereingabe in Position zu bringen. Die Bremer, um den Ball zu verteidigen. Die Berliner, um ihn ins Tor zu bringen. Borré aber stand nahe der Mittellinie, weit von seinen Mitspielern entfernt.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Vereins wirft, Entwicklungen einordnet und Zusammenhänge erklärt.
Ole Werner traute in diesem Moment seinen Augen nicht. Als Werders Trainer später in einem anderen Zusammenhang davon sprach, es gebe in der Mannschaft „ein paar extrovertierte Charaktere“, da wird er auch Borré gemeint haben. Die Absichten des Stürmers in dieser Szene waren klar: Er wollte auf ein Tor lauern, auf einen letzten Konter, um sich in die Torschützenliste einzutragen. Den Sieg verteidigen, das wollte er nicht. Natürlich bekam er sofort einen Anpfiff von seinem Trainer, der ihn schnell in den Strafraum schickte, damit auch der kopfballstarke Borré helfen konnte, den Freistoß zu verteidigen. Werner beorderte ihn mit einer energischen Armbewegung zurück, und wie lange er danach seinen Arm in der Luft behielt und dem Stürmer mit großen Augen hinterherschaute, das sprach Bände.
Zum ersten Mal stand der Kolumbianer 90 Minuten für Werder auf dem Feld. Dass er vorher nur zu Kurzeinsätzen kam, die sich in fünf Spielen auf magere 170 Minuten summierten, hing genau damit zusammen: Einer wie Rafael Borré ist nicht so einfach in die Abläufe zu integrieren, weil er primär nicht für Werder spielt, sondern hauptsächlich für sich. Das hört sich schlimmer an, als es ist. Ein gewisser Egoismus tut jedem Stürmer gut, bei Borré ist es aber noch einmal anders. Er ist nicht nach Bremen gekommen, weil das Weserstadion ihn schon immer gereizt hätte. Sondern weil er öfters spielen und Tore schießen will, als es ihm zuletzt bei Eintracht Frankfurt vergönnt war, wo er hinter Topstürmer Kolo Muani (15 Tore in 32 Spielen) um Einsätze kämpfen musste.
Dass er als Füllkrug-Ersatz in Bremen landen würde, hätten wohl weder Werner noch Borré in ihren Sommerurlauben erwartet. Wie sehr sich der Angreifer durch Tore definiert, zeigte sich gegen Union ja auch, als er sich für das Bremer 1:0 feiern ließ, obwohl es ein Eigentor war. Wohl noch nie hat sich ein Werder-Profi für ein Tor so leidenschaftlich gefeiert, obwohl er es gar nicht geschossen, ja noch nicht mal den Ball berührt hatte.
Genau das ist seine Mission: Er ist nach Bremen gekommen, um aufzufallen. Um seinen Stammplatz in der starken Nationalmannschaft von Kolumbien zu behalten, muss er im Verein spielen und treffen. Borré stand auch in der Startelf seines Heimatlandes, als die Kolumbianer im Juni das deutsche Team mit 2:0 besiegten. Spielt er bei Werder nicht von Beginn an (das war bisher überraschend oft so), führt das den Wechsel aus seiner Sicht ad absurdum. Werder hat den Angreifer für eine Saison ausgeliehen, danach hat er noch bis Sommer 2025 Vertrag bei Eintracht Frankfurt – dem Verein, mit dem er die Europa League gewann. Große Titel pflastern seinen Weg: Borré hat in Kolumbien, Argentinien und Europa schon neun wichtige Pokale gewonnen. Das sind viel mehr, als alle anderen Werder-Spieler des aktuellen Kaders zusammen jemals in den Händen hielten.
Daraus leitet er Ansprüche ab – sonst hätte er gar nicht erst als Nachfolger des Torschützenkönigs Niclas Füllkrug nach Bremen wechseln brauchen. Borré hat fast immer international gespielt. In Bremen ist er vor allem, um sich wieder für andere, größere Aufgaben interessant zu machen.
Das ist der Unterschied zu Füllkrug. Der hörte als Jugendlicher das Nebelhorn bei Werder-Toren bis in sein Internatszimmer im Stadion. Für ihn war es ein Traum, für Werder aufzulaufen. Für Borré ist dann alles gut, wenn er spielt und trifft. Deshalb muss man ihn manchmal zur Ordnung rufen, wie Werner es nun gegen Union gemacht hat.