Natürlich werden sich die gelbgesperrten Marvin Ducksch und Leo Bittencourt über den Sieg in München gefreut haben. Die drei Bonuspunkte sind wertvoll – in der Tabelle und für das Image des Vereins. Die kleinen Bremer haben den Bayern die Lederhosen ausgezogen. Eine junge Generation von Werder-Fans kannte das nur aus Erzählungen.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bremer Traditionsvereins wirft, Zusammenhänge erklärt und Entwicklungen einordnet.
Es war ein völlig unerwarteter Sieg, aber verdient, weil alle Werder-Spieler über ihre Grenzen gingen - und die Stars der Bayern das nicht machten. Sie glaubten, ein Werder ohne Ducksch und Bittencourt sei noch schwächer als das, was sie in der Videoanalyse von Bremer Spielen gesehen hatten. Falsch gedacht, kann man da nur sagen. Das gilt aber auch für die Frage, ob man lieber gegen Bayern eine Gelbsperre absitzt als in den Wochen danach – hinterher ist man da immer schlauer. Nun beschert der Sieg Trainer Ole Werner ein Luxusproblem, mit dem er vor wenigen Wochen nicht gerechnet hätte: In seinem dünnen Kader muss er nun auswählen für die nächste Startelf: Haben die leidenschaftlichen Bayern-Besieger einen Bonus oder behalten die alten Platzhirsche ihren Startplatz?
Werner wird das unaufgeregt lösen. Es war ja nicht sein erstes Bayern-Besiegen. Er hat das im DFB-Pokal mit Holstein Kiel schon mal geschafft, im Januar 2021. Zwei Siege gegen Bayern München binnen 36 Monaten, das muss man als Trainer erst einmal schaffen, wenn man nicht in der Champions League tätig ist.
Fakt ist: Alle, die nun in München für Werder auf dem Rasen standen, haben Pluspunkte gesammelt. Das gilt auch für einen Spieler, der zu den Gewinnern der Saison zählen dürfte: Michael Zetterer. Wie sein Trainer ist auch der Torhüter kein Sprücheklopfer, er geht alle Aufgaben mit Ruhe an und freut sich über jeden Schritt in die richtige Richtung. Der Sieg in München war für Zetterer nicht nur deshalb wichtig, weil er aus München stammt und als Kind Spiele in dieser Arena gesehen hat. Viel wichtiger war es für ihn, dass Werder ohne Gegentor blieb und Zetterer mit sieben großartigen Paraden und Reflexen mindestens so viel dazu beitrug wie Torschütze Mitchell Weiser. Die Statistiken weisen kein besseres Spiel für Zetterer aus als dieses.
Solch ein Spiel gegen einen großen Gegner hat der Torhüter gebraucht. Auch hier ist es die Geschichte eines Platzhirsches, der verdrängt wurde: Jiri Pavlenka, dem in Bremen außergewöhnlich viele Herzen zufliegen, sitzt draußen. Es ist das zweite Mal, dass der drei Jahre jüngere Zetterer den inzwischen 31-jährigen Pavlenka verdrängt hat. Zu Zweitligazeiten hatte er schon einmal die Verletzungsanfälligkeit des Tschechen genutzt und die ersten elf Spiele gemacht – hinter einer schwachen Vordermannschaft, die damals Richtung Zweitligakeller taumelte. Das war undankbar für Zetterer, der wieder raus musste. Werner kam damals als Trainer und festigte Werder, Pavlenka wurde sein Aufstiegstorwart.
Jetzt hat Zetterer wieder elf Spiele für Werder gemacht, diesmal am Stück in der Bundesliga. Seine Leistung in München sollte dazu beitragen, das Geraune zu mindern, dass es mancherorts noch gibt. Dass man erst einmal abwarten müsse, ob sich Zetterer durchsetzt und ob er dauerhaft Pavlenka verdrängen kann. Objektiv betrachtet gibt es keinen Grund für solch ein Geraune, das Problem ist ein anderes: Pavlenka hat sich im Werder-Umfeld eine enorme Lobby aufgebaut, seine mehr als 200 Spiele in mehr als sechs Jahren haben Spuren hinterlassen. Wenn Pavlenka nicht spielt, kann man fest davon ausgehen, dass von irgendwo Stimmen auftauchen, er werde sowieso bald wieder im Bremer Tor stehen. Eine solche Lobby hatte Zetterer nie, deshalb ist das Standing, das er sich in der Mannschaft und bei vielen Fans erarbeitet hat, noch höher zu bewerten.
Eine Abstimmung im Werder-Kader würde wahrscheinlich für Zetterer ausgehen. Weil er in all den Jahren bei Werder immer ein angenehmer, unterstützender Typ war – und vor allem, weil er sehr gut mitspielt. Ohne den Zielspieler Füllkrug besteht der Spielaufbau nicht mehr aus langen Bällen des Torwarts in den Zehnerraum, es muss mehr flach von hinten aufgebaut werden. Das ist Zetterers Stärke, weil er fußballerisch so gut ist, dass er auch unter Druck gute Bälle zum Mitspieler bringt. Dadurch können die Abwehr- oder Mittelfeldspieler in Bedrängnis den Rückpass zum Torwart wählen, der bei Werder jetzt wie ein elfter Feldspieler agiert. Zetterer steht nicht im Tor, weil er die Bälle besser hält als Pavlenka. Sondern weil er der Mannschaft als mitspielender Torhüter Sicherheit gibt. Dass er obendrein auch exzellent halten kann, hat er nun in München bewiesen. Das dürfte seinen Stellenwert nachhaltig festigen.