Gerade jetzt, wo beim SV Werder ein neuer Aufsichtsrat gewählt werden muss, sollte man an einen Brief erinnern, der im vergangenen Jahr in ein paar ausgewählten Postkästen in Bremen landete. Auch die Sportredaktion des WESER-KURIER erhielt diesen Brief, obwohl der mit dem Hinweis „Vertraulich“ versehen war. Er richtete sich an das Geschäftsführende Präsidium des SV Werder, namentlich an Präsident Hubertus Hess-Grunewald, Schatzmeister Axel Plaat und Vizepräsident Jens Höfer.
Das dreiseitige Schreiben sorgte im Spätsommer 2020 beim SV Werder für so große Verstimmung, dass der Verein damals mehrere Tage brauchte, um auf Nachfrage zu bestätigen: Ja, so ein Brief ist bei uns eingegangen. In Kopie wurde das Schreiben unter anderem dem Aufsichtsrats-Vorsitzenden Marco Bode sowie dem Vorsitzenden des Wahlausschusses, Peter Eilers, zugestellt.
"Schlammschlacht in der Presse"
Die Unterzeichner und alle sonst Beteiligten kamen aus der Werder-Familie: Die langjährigen Vereinsgrößen Klaus-Dieter Fischer und Manfred Müller signierten handschriftlich und versicherten, beratend für „eine Gruppe besorgter Vereinsmitglieder“ zu handeln. Von dieser Gruppe weiß man, dass sie sich um den früheren Aufsichtsrat und bekannten Sportmoderator Jörg Wontorra bildete und auch die Manager-Legende Willi Lemke zumindest gut über die Absichten der Damen und Herren informiert ist.

Werders Mannschaft bewegt viele Menschen. Die Vereinsgremien tun das eher nicht.
Teile des Briefes sorgten für Schlagzeilen, es geht um eine Vergrößerung des Aufsichtsrates von sechs auf neun Mitglieder oder darum, dass der Präsident – aktuell also Hess-Grunewald – nicht mehr hauptamtlicher und gut bezahlter Geschäftsführer sein soll, sondern bestenfalls noch Vorsitzender des Aufsichtsrates. Einerseits kann man über derlei natürlich diskutieren und auch darüber, warum Fischer nun gegen eine Führungsstruktur ist, die doch sehr zu seinem Vorteil schien, solange er selbst im Amt war.
Andererseits darf man nüchtern feststellen: Viele Werder-Fans hat das schon damals so wenig interessiert wie heute, ihnen wäre ein neuer Stürmer oder ein Neun-Punkte-Vorsprung auf die Abstiegsplätze viel lieber gewesen. Wer kennt schon den Aufsichtsrat von Mainz 05 oder die vielen Führungsgremien des 1. FC Köln? Richtig: niemand. Weil es für die breite Masse weder wichtig ist, noch interessant.
Sehr aufschlussreich ist aber, was in den ersten Absätzen des Briefes steht, dem eine handelsübliche Rechtschreibprüfung übrigens nicht hätte schaden können. Die massive Kritik entzündete sich demnach am schlechten Abschneiden in der Fast-Abstiegssaison 2019/20, als sich Werder in der Relegation gegen Heidenheim rettete. „Eine katastrophale Saison“, heißt es in den ersten Zeilen. Insbesondere hätten „erhebliche Fehler der Verantwortlichen dem Ansehen unseres Vereins geschadet“. Ein „Weiter so“ sei vorprogrammiert, ahnen die Autoren berechtigterweise, schießen dann aber den grün-weißen Vogel ab: Man halte es „trotzdem für falsch, vor der Mitgliederversammlung mit einem Kritikpapier an die Öffentlichkeit (Internet, Presse, Mitglieder, Fans) zu gehen“. Eine vorherige Veröffentlichung würde „eine Sachdiskussion verwässern, zu einer Schlammschlacht über die Presse führen und dem Verein weiteren Schaden zufügen“.

GRUEN AUF WEISS ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bundesligisten wirft, Zusammenhänge erklärt und die Entwicklungen im Verein einordnet.
Dabei wäre noch mehr Öffentlichkeit für ihre Sache wohl nur möglich gewesen, wenn sie Kopien des Briefes auch noch mit dem Flugzeug über der Innenstadt abgeworfen hätten. Gefühlt bewegte sich die Werder-Familie mit diesem Vorstoß irgendwo zwischen Schalke und Hamburg, zwischen Chaos-Klub und nervigen Eitelkeiten. Dabei war Werder damals noch Erstligist, geachtet und ziemlich beliebt, aber – das ist natürlich richtig – mittelmäßig organisiert und recht erfolglos.
Inzwischen ist Werder auch sportlich exakt zwischen Schalke und Hamburg angekommen. Zweitklassig in vielen Belangen. Bevor sich der Aufsichtsrat in den nächsten Wochen neu aufstellt und Wahlkämpfe aufführt, möchte man allen Lagern zurufen: Nehmt euch nicht zu wichtig! Die Fans sehnen sich nach Toren und Siegen, nicht nach Grabenkämpfen um VIP-Tickets, Aufwandsentschädigungen und Diensthandys.
Dass ausgerechnet beim SV Werder Vertraulichkeit neu definiert wird, passt dabei genauso wenig zu diesem Verein wie die zweite Liga. Was auf dem Fußballfeld passiert, sollte schnell wieder das Wichtigste sein. Der Rest sollte zwar nicht als zweitklassig, aber wenigstens als zweitrangig betrachtet werden.