Kein Sport bleibt von unsinnigen Statistiken verschont, der Fußball schon mal gar nicht. Ein schönes Beispiel, wie weit theoretisches Wissen und praktischer Nutzen auseinanderklaffen können, bietet aktuell Marvin Ducksch: Beim Bremer Sieg in Mainz verwandelte er seine erste Chance zum entscheidenden Tor. Eine kurze Drehung im Strafraum wie einst bei Gerd Müller – schon zappelte der Ball im Netz. Das war eiskalt, sehr wichtig für Werder und keineswegs ungeschickt. Ein paar Tage zuvor aber hatten ihn die Statistiker des internationalen Ticketportals „Ticketgum“ als „tollpatschigsten Fußballspieler in der deutschen Nationalmannschaft“ identifiziert, weil Ducksch – statistisch betrachtet - mehr Probleme als alle anderen Spieler habe, den Ball nach Zuspielen zu kontrollieren.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bremer Traditionsvereins wirft, Zusammenhänge erklärt und Entwicklungen einordnet.
Richtig ist: Würde Ducksch nicht nur Tore schießen, sondern auch noch den Ball streicheln wie einst der Schöngeist Zinedine Zidane, dann würde er bestimmt nicht in Bremen spielen. Viel wichtiger aber ist: Er trägt noch das Werder-Trikot und liefert zuverlässig ab. Erst trug er 21 Tore und zehn Vorlagen zum Aufstieg bei, danach sicherten auch seine zwölf Tore den Klassenerhalt in der Bundesliga – was Duckschs persönlicher Durchbruch als erstklassiger Stürmer war. Nach dem Treffer in Mainz kommt er aktuell schon wieder auf neun Tore und fünf Vorlagen, und das im ersten Jahr ohne seinen kongenialen Sturmpartner Niclas Füllkrug, der im Dortmunder Trikot übrigens gerade ebenfalls bei neun Saisontoren und fünf Vorlagen steht.
Für Ducksch gilt das, was in den vergangenen Wochen auf ungewöhnlich viele Werderprofis zutrifft: Er spielt am Limit oder verschiebt seine Grenzen in eine Richtung, die ihm viele nicht zugetraut hätten. Schon 42 Tore schoss Ducksch in 84 Ligaspielen für Bremen – wer hätte das denn gedacht, als der ewige Zweitligaprofi vor knapp drei Jahren aus Hannover kam? Wie Ducksch spielen auch andere Bremer seit Wochen deutlich besser, als es ihre vorherigen Leistungen erwarten ließen. Das gilt zum Beispiel für Felix Agu, der mit seinem Tempo auf der Außenbahn den Werder-Angriffen so viel Tiefe gibt wie Stürmer Justin Njinmah. Schneller als andere war Agu schon immer, in seinen ersten Spielen für Werder brachte er als junger Profi aber kaum eine Aktion sinnvoll zu Ende. Der Agu von heute ist ein anderer, erheblich wertvollerer Spieler. Er ist ein schönes Beispiel, dass junge Spieler bei Werder unter Ole Werner zu Bundesligaspielern reifen können, wenn sie die Chance dazu bekommen und diese auch nutzen. Inzwischen ist Agu 24 Jahre und in der Bundesliga etabliert.
Zu den Spielern, die bei Werder seit Wochen deutlich besser spielen als im Schnitt ihrer bisherigen Auftritte, zählen auch die Österreicher Marco Friedl und Romano Schmid - wobei Schmid mit seinem feinen Fuß nun davon profitiert, endlich mal schnelle Pässe in die Tiefe auf einen Njinmah oder Agu spielen zu können. Das zuvor eher statische Spiel um zwei zentrale Stürmer herum war für Schmid weniger schön. Auch der Belgier Senne Lynen, in seiner Heimat zuvor Führungsspieler, kommt im defensiven Mittelfeld immer besser an, er durchläuft eine Entwicklung wie vorher der Däne Jens Stage.
Diese Leistungsschübe sind ein Grund für Werders erfolgreichen Zwischenspurt, der die Bremer mit drei Siegen in die obere Tabellenhälfte befördert hat, weit weg von der Abstiegszone. Es gibt drei weitere Gründe: Zum Beispiel den Konkurrenzkampf, den es viele Monate im Prinzip nicht gab, weil sich die Mannschaft – berechenbar für den Gegner – meist von selbst aufstellte. Durch die Entwicklungssprünge von Njinmah, Agu und Lynen hat sich das geändert. Vorherige Stammspieler haben ihren Platz nicht mehr sicher. Was direkt zum nächsten Pluspunkt führt: Werner kann wieder mehr Qualität einwechseln. Beim Sieg in Mainz kamen gestandene Profis wie Leo Bittencourt oder Rafael Borré von der Bank ins Spiel. Das war in der jüngeren Vergangenheit oft Werders Gegnern vorbehalten. Jetzt verfügen auch die Bremer – zumindest in Teilen – über eine gute Breite im Kader.
Der letzte Pluspunkt, und der zeichnete sich schon früh ab: Wenn ein Gegner einen richtig schlechten Tag hat, nutzt Werder diese Gelegenheit und sichert sich die drei Punkte. Das war in der Hinrunde gegen Mainz und Köln so, zuletzt auch gegen Bayern und Freiburg. Das sind genau die Punkte, die Werder immer von der Abstiegszone fernhielten, obwohl gegen beide Aufsteiger mit 2:4 verloren wurde. Diese Schmach kann Werder nun tilgen – am Wochenende gegen Heidenheim und im nächsten Heimspiel gegen Darmstadt. Beide 2:4-Niederlagen in der Hinrunde waren tollpatschig. Jetzt dürfte Werder stark genug sein, es besser zu machen.