Aus gegebenem Anlass sei mal an die Geschichte von Sead Kolasinac erinnert. Der Linksverteidiger wurde im Januar 2021 von Schalke 04 verpflichtet, es war eine Geschichte voller Irrungen und Wirrungen. Schalke steckte in höchster Not im Tabellenkeller fest, Kolasinac saß beim FC Arsenal nur auf der Tribüne. Also holte Schalke ihn heim, bei den Königsblauen hatte er in der Jugend gespielt. Wie ein Messias wurde Kolasinac empfangen, Reporter berichteten sogar euphorisch darüber, dass er morgens als Erster den Trainingsplatz betrat. Er war die personifizierte Hoffnung.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bundesligisten wirft, Zusammenhänge erklärt und die Entwicklungen im Verein einordnet.
Fünf Monate später war Schalke abgestiegen. Kolasinac verschwand wieder. Zwei entscheidende Dinge waren bei dieser Not-Verpflichtung nämlich außer Acht geraten: Dass Arsenal ihn loswerden wollte, weil er völlig außer Form war. Und dass ein Linksverteidiger nicht entscheidend ist für die Frage, ob eine Mannschaft genügend Spiele gewinnt, um in der Bundesliga die Klasse zu halten. Anders als bei Stürmern, Mittelfeldstrategen, Innenverteidigern oder Torhütern ist ihr Einfluss aufs Spielgeschehen begrenzt. Solche Spieler sind wichtig für die Statik einer Mannschaft und für einzelne Szenen, aber nicht für das Wohl eines Vereins. Wirklich prägende Außenverteidiger wie Roberto Carlos, Marcelo, Bixente Lizarazu oder Philipp Lahm werden nur alle paar Jahrzehnte geboren, und sie spielen dann leider nicht bei Werder Bremen.
Deshalb sollte man die Erwartungen dämpfen, wenn bei Werder in dieser Woche ein neuer Linksverteidiger kommen soll. Nominell ist das logisch, weil seit dem Weggang von Lee Buchanan eine Planstelle im Kader offen ist. Anthony Jung ist für hinten links der letzte gesetzte Mann, und er spielt genau das, was man erwarten konnte, nachdem er zuvor nur für Ingolstadt mal in der Bundesliga auflief (16 Einsätze). Er spielt einen soliden Part auf links, und auch wenn er dort mal an Gegentreffern beteiligt ist wie nun beim Tor in Freiburg, so muss man fairerweise sagen: Mitchell Weiser hat den Gegnern auf seiner rechten Seite schon viel mehr Chancen ermöglicht, weil er seine Rolle offensiver interpretiert als Jung.
Nach drei verlorenen Spielen zum Saisonstart (und 0:5 Toren in der Bundesliga) jetzt „nur“ noch einen Linksverteidiger zu holen, ist sicher nicht das, was sich die grün-weiße Fangemeinde mit Blick auf die Mannschaft wünschen würde. Bis auf die Torwartposition, auf der sich Jiri Pavlenka neuen Kredit erspielt hat, würde den Anhängern so manche Position einfallen, auf der Werders bescheidene finanzielle Mittel besser investiert wären als hinten links. Beunruhigend ist zudem, wie lange diese Verpflichtung schon dauert, denn das führt vor Ende des Transferfensters an diesem Freitag zwangsläufig zu der Frage: Wenn Werder so lange taktiert, um sich einen Linksverteidiger zu schnappen, reichen die Kapazitäten dann, um in Windeseile den drohenden Abgang von Niclas Füllkrug zu kompensieren?
Bei allem wirtschaftlichen Druck, unter dem Werder nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen des selbst verschuldeten Abstiegs leidet: Mit Blick auf die sportliche Lage wäre es für Werder inzwischen besser, wenn kein Verein mehr 20 Millionen Euro für Füllkrug zahlen würde, sondern der Nationalstürmer weiter für Bremen kämpft und trifft. Die Saisonvorbereitung wäre eine Farce, wenn Ole Werner jetzt seinen zentralen Spieler verlieren würde, auf den das Bremer Spiel zugeschnitten ist. Zudem würde die Mannschaft ihren wichtigsten Anführer in der Kabine verlieren, der natürlich auch mal aneckt und mit seiner emotionalen Art bei den Vorgesetzten nicht besonders gut ankommt. Aber ohne diese Reibung könnte alles noch schwieriger werden.
Beim Kampf um den Erstligaerhalt, den Verein und Fans nur gemeinsam schaffen können, sind zwei Formulierungen gefährlich, die man bei Werder zuletzt häufiger hörte: Werner zum Beispiel sieht eine „Innen- und eine Außenwahrnehmung“, soll heißen: Intern könne man die Stärken und die Leistung einzelner Spieler besser einschätzen als die Leute da draußen. Letztlich gibt es aber nur eine Wahrheit, nämlich die auf dem Platz.
Die zweite Formulierung, meistens nach entscheidenden Fehlern im Spiel: „…, dann wird es natürlich schwer.“ Alles, was nach Werders Niederlagen zuletzt vor diesen drei Pünktchen stand, gehört im Fußball dazu. Da kann man nicht sagen: Wenn das nicht passiert wäre, hätten wir nicht verloren. Ob es Rote Karten wegen schwacher Abwehrleistung sind, frühe Gegentore oder Flanken, die man in Überzahl verhindern kann. Wenn vor diesen drei Pünktchen mal nichts mehr steht, wird der Kampf um den Klassenerhalt leichter…