Schon oft wurde darüber diskutiert, ob Werders Mannschaft zu brav ist. Ob es an Spielern fehlt, die sich auf dem Feld mal wehren – und die sich nicht scheuen, alle Tricks anzuwenden, die von den Gegnern auch genutzt werden. Selbst der Elfmeterpunkt wurde den Bremern mal heimlich kaputt gemacht, gegen Augsburg war das, im September 2022. Marvin Ducksch verschoss prompt auf dem ramponierten Rasenstück. Daraus hat die Mannschaft gelernt: Seither wird der Elfmeterpunkt vor jedem Strafstoß beschützt, meistens spielt der vielseitig einsetzbare Mitchell Weiser den Leibwächter für den Elfmeterpunkt.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bremer Traditionsvereins wirft, Zusammenhänge erklärt und Entwicklungen einordnet.
Gegen Hoffenheim spielte Werder in vielen Momenten nun frecher, ausgebuffter. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es geht nicht um Vergehen, die der Schiedsrichter mit einer Karte ahnden würde. Aber im Profifußball gehört der ein oder andere Kniff dazu, um in hektischen Phasen des Spiels mal durchatmen zu können oder bei einer Führung Zeit von der Uhr zu nehmen. Zwei Spieler, die so etwas im Werder-Trikot perfekt einstreuen konnten, waren zuletzt Niclas Füllkrug und Leo Bittencourt. Doch der eine wurde verkauft, der andere spielt seit Wochen nicht mit.
Auch ohne die beiden Routiniers war nun eine Bremer Mannschaft zu sehen, die in vielen Momenten abgezockt agierte. Die Hoffenheimer werden es als nervig empfunden haben. Zum Beispiel, als Keke Topp und Marco Grüll eine Ewigkeit an der linken Eckfahne der gegnerischen Hälfte verbachten und dort durch Geschick und ihre wuchtigen Körper mehrere Einwürfe provozierten. Rund drei Minuten verstrichen dadurch in der Nachspielzeit. Oder als Michael Zetterer nach einem abgefangenen Ball so lange darauf liegen blieb, wie es gerade noch vertretbar war. Und dann die Szene mit Olivier Deman, der nach einem Foul kurz am Boden lag, aber wieder aufstehen wollte – bis Jens Stage ihm zuflüsterte, dass er mal lieber noch etwas liegen bleiben solle…
Einmal sah Topp dann doch Gelb
Auch nicht schlecht: Der junge Topp schoss seinem Gegenspieler aus zwei Metern trocken gegen das Scheinbein, der Ball flog wieder ins Seitenaus. Dadurch vergingen einige Sekunden. Einmal sah Topp dann aber doch Gelb, er hatte bei einem Freistoßpfiff für Hoffenheim den Ball zur Seite gekickt.
In der Summe halfen den Bremern diese Kleinigkeiten, um in einem wilden Spiel den Sieg ins Ziel zu bringen. Damit hat Werder auch gegen den dritten Gegner auf Augenhöhe auswärts gepunktet: Nach dem 2:2 in Augsburg und dem 2:1-Sieg in Mainz gab es nun den 4:3-Erfolg gegen Hoffenheim, und das nach einem 0:3-Rückstand. Werder hatte den Umständen getrotzt, deshalb verwendete Trainer Ole Werner das Wort so oft: Trotz der schlechten Anfangsphase, trotz der schlechten Erfahrungen mit Überzahlspiel zuletzt gegen Dortmund und trotz der Hektik auf dem Rasen gewann Werder.
So lange es die Spieler mit diesen Tricks nicht übertreiben und man sich als Werder-Fan damit noch identifizieren kann, ist diese Spielweise nicht schlimm, man kann sie ausgebufft nennen. Die Gegner fragen in solchen Momenten ja auch nicht, ob einem das Recht ist. Schon bald wird sich keiner mehr daran erinnern, anders als bei den großen Tricksern auf der Weltbühne des Fußballs, die es übrigens auch außerhalb Italiens gab. Unvergessen: Der kolumbianische Spielmacher Carlos Valderrama bei der WM 1990 gegen Deutschland. Nach einem Foul von Klaus Augenthaler blieb der blonde Wuschelkopf minutenlang liegen. Zahlreiche medizinische Helfer eilten herbei und brachten ihn mit einer Trage vom Platz. Doch mit einem flotten Sprung von der Trage war Valderrama wieder topfit und im Spiel. Die Szene ging als „Auferstehung“ in die Geschichte des südamerikanischen Fußballs ein. Später sagte Valderrama, das sei die einzige Chance gewesen, gegen den späteren Weltmeister Deutschland ein 1:1 über die Zeit zu retten.
Frankreich wurde so Weltmeister
Der Italiener Ciro Immobile erlangte Berühmtheit, als er bei der EM 2020 gegen Belgien schreiend im Strafraum liegen blieb. Er wälzte sich vor angeblichem Schmerz, doch das Spiel ging weiter und sein Kollege Nicolo Barella traf ins Tor. Sofort stand Immobile auf und jubelte mit. Bei der WM 2018 in Russland brachte Frankreich in der Vorrunde ein 1:0 gegen Peru mit so vielen Zeitspiel-Tricks über die Runden, dass mancher Italiener vor Neid erblasst sein dürfte. Am Ende des Turniers waren die Franzosen um Superstar Kylian Mbappé Weltmeister – im Fußball, nicht im Schauspielern.
Werder scheint gerade schnell zu lernen, nicht nur beim Über-die-Zeit-Retten einer Führung. Anders als nach dem 0:0 gegen Dortmund war nach dem Sieg in Hoffenheim nicht das Negative (0:3-Rückstand) das Thema, sondern das Positive: der begeisternde Sieg. Werner hatte befohlen: Heute reden wir nicht über das Negative, das können wir uns morgen noch anschauen.