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8. Mai 2004: Werders Triumph Der grün-weiße Supertag

Viermal ist Werder Bremen bislang deutscher Fußballmeister geworden. Wie vor 20 Jahren der vierte und wohl spektakulärste Triumphtag ablief, hat der WESER-KURIER gemeinsam mit Thomas Schaaf protokolliert.
08.05.2024, 05:00 Uhr
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Der grün-weiße Supertag
Von Olaf Dorow

Vor genau 20 Jahren holte Werder Bremen seine vierte deutsche Fußballmeisterschaft. Der 8. Mai 2004 gilt bis heute als einer der triumphalsten und spektakulärsten Tage in der grün-weißen Historie. Gemeinsam mit Erfolgstrainer Thomas Schaaf hat der WESER-KURIER den Ablauf nachvollzogen.

8.15 Uhr: Der Werder-Tross war tags zuvor mit einer Chartermaschine nach München geflogen. Die drei Trainer Thomas Schaaf, Karlheinz Kamp und Dieter Burdenski treten vors Marriott-Hotel und brechen zu einer Joggingrunde auf. Eine Stunde durch den Englischen Garten. Der Lauf gehört zu einem Trainerritual vor den Spielen, er ist quasi Teil zwei des Rituals, das aus drei Teilen besteht. Teil eins gab es am Vorabend. Da wurde eine Currywurst gegessen.

10.10 Uhr: Bis 10 müssen alle gefrühstückt haben. Das Trainerteam tritt jetzt erneut vors Hotel, diesmal sind auch die Spieler dabei. Knapp 20 Minuten Spaziergang. Ganz lässig soll es durch ein paar Straßen von München-Schwabing gehen.

11.00 Uhr: 20-minütiges Meeting in einem Konferenzraum des Hotels. Auf einem Flipchart Aufstellung und Taktik: Thomas Schaaf spricht die verbalen Attacken an, die von den Bayern unter der Woche kamen. Torwart Oliver Kahn kündigte an, er werde kein einziges Tor mehr kassieren für den Rest der Saison. Manager Hoeneß hatte über die norddeutsche „Sauerei“ am vergangenen Spieltag geschimpft. Hamburg hatte in Bremen 0:6 verloren. „Wegmachen, niedermachen“ wolle man die Bremer nun. So sehr, wie Hoeneß für Zornesausbrüche bekannt ist, so sehr steht Schaaf fürs Gegenteil. „Wir gucken auf uns, blendet das aus“, wird zum Kern seiner Ansprache in der Mannschaftssitzung. Es folgt Teil drei des Trainerrituals: Es gibt Milchreis.

13.30 Uhr: Der Werder-Bus fährt zum Olympiastadion. Die Spieler bekommen auf der Fahrt nicht nur die roten Fantrikots vom FC Bayern zu Gesicht. Sie sehen ganz viel Grün-Weiß. Rund 8000 Werder-Fans sind nach München gekommen. Im Restaurant „Seehaus“ im Englischen Garten sitzen zeitgleich die Werder-Bosse zusammen mit den Bayern-Bossen und essen Mittag. Es fehlt: Werders Aufsichtsratschef und Ex-Präsident Franz Böhmert. Er ist in Bremen geblieben. Die Aufregung vor Ort kann er nicht mehr ab. Werder-Vorstand Manfred Müller berichtet später, er habe den Bayern-Granden im „Seehaus“ eine Niederlage prophezeit.

15.15 Uhr: Eine letzte Kabinenansprache. Lautstarke Schlachtrufe bleiben aus, sie kommen weder vom Trainer noch von den Spielern. Ein gutes Spiel wollen sie machen. Dass Werder heute die Meisterschaft klarmachen kann, wird nicht erwähnt.

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15.49 Uhr: Das Torlos-Versprechen des Oliver Kahn hält nur wenige Spielminuten. Kahn lässt einen etwas ungenauen Pass von Werder-Stürmer Ailton abprallen, fatalerweise zu Ivan Klasnic. „Ein Riesenpatzer“, ruft auf der Tribüne Radio-Reporter Henry Vogt. Klasnic überlistet den Supertorwart mit einer geschickten Drehung. 1:0 für Werder. Bei Thomas Schaaf macht sich das Gefühl breit: Die Bayern kriegen ihre Bayern-Dominanz nicht hin heute. Werder ist da.

15.56 Uhr: Kahn wird schon wieder überlistet. Fabian Ernst passt steil auf Johan Micoud. Der König des Mittelfelds hebt den Ball über Kahn hinweg ins Netz. Ein Tor für die Ruhmeshalle von schönen Werder-Toren, es steht 2:0 für Bremen. Rund 750 Kilometer nördlich klatschen sich wildfremde Menschen ab oder liegen sich in den Armen. Vor der großen Leinwand, die auf dem Domshof die Liveübertragung des Pay-TV-Senders „Premiere“ zeigt, sollen es schätzungsweise 30.000 Menschen sein.

16.05 Uhr: Mit dem linken Fuß schlenzt Ailton – der „Dicke“, wie Schaaf ihn nennt – den Ball aus circa 20 Metern in Kahns Tor. Sein 27. Saisontor ist ein Traumtor. Ailton bekommt später die Torjägerkanone, die noch später auch mal auf Ebay landet. Aber das ist eine andere Geschichte. Auf der Münchner Pressetribüne dreht sich jetzt der Live-Kommentator Marcel Reif zu seinem Premiere-Assistenten um und hebt beide Hände. „Es geht ja alles! Und sie lassen ihn laufen, sie lassen ihn schießen“, ruft Reif in sein Mikro. Für Werders Ultra-Fans sind es wohl auf ewig die schönsten Marcel-Reif-Sätze aller Zeiten. Viele Ultras mögen ihn nicht sonderlich, er ist ihnen zu Bayern-nah.

16.42 Uhr: Der Glückspegel auf dem Domshof sinkt kurzzeitig. Aber nur ein bisschen: Bayerns Topstürmer Roy Makaay hat das 1:3 erzielt. Schaafs Gefühl, dass Werder den Kopf oben behält, bleibt. Den meisten Werder-Fans scheint es ähnlich zu gehen. Die Bremer Kurve im Olympiastadion gibt weiterhin den Ton an in der großen Schüssel. Obwohl noch eine halbe Stunde zu spielen ist, leuchtet auf der Anzeigetafel für ein paar Sekunden „Herzlichen Glückwunsch, Werder Bremen!“ auf.

17.18 Uhr: Abpfiff. Werder ist Deutscher Meister. Der Bayern erweisen sich als fairer Verlierer. Den Champagner der Marke „Lanson“, der jetzt aus großen Flaschen überall vergossen und verspritzt wird, haben sie gespendet. Im Trubel auf dem Feld ist Uli Hoeneß der Erste, der Thomas Schaaf gratuliert.
17.30 Uhr: Ohne es zu wollen, kopiert Thomas Schaaf die berühmte Beckenbauer-Minute von Rom nach dem Gewinn des WM-Titels 1990. Mit den Händen in der Hosentasche dreht Schaaf eine einsame Runde über den Rasen. Sehr persönliche Gedanken seien ihm durch den Kopf gegangen, sagt er. Er habe an die Schicksalsschläge denken müssen, die 2003 in schneller Folge gekommen waren. Er hatte gleich drei Menschen aus seiner nächsten Umgebung verloren: seinen Bruder, seinen engsten Freund und den Mann seiner Schwiegermutter.

17.35 Uhr: Ailton weint. Er liegt, unweit der Bremer Fankurve, in den Armen von Thomas Schaaf und Co-Trainer Karl-Heinz Kamp. Ailton, der eben noch vor Freude den Rasen geküsst hatte, weiß kaum noch, wohin mit seinen Emotionen. Vor ein paar Monaten hatte er einen Vertrag beim FC Schalke unterschrieben, er wird zum Saisonende wegziehen aus Bremen. Ihn übermannt die Vorahnung, dass das ein großer Fehler gewesen sein könnte. Die Zukunft wird zeigen: Fußballerisch gesehen war es das.

17.45 Uhr: Schaaf geht zu den jubelnden Spielern in die Kabine. Der Trainer fliegt, so bekleidet, wie er ist, ins Entmüdungsbecken, sowie auch Manager Klaus Allofs oder Marita Hanke vom Pressestab. Ailton ist inzwischen wieder obenauf, das Gefühlsbarometer ist komplett in die andere Richtung geschnellt. Der Torjäger tanzt nackt vor einer TV-Kamera.

18.10 Uhr: Von den Katakomben des Stadions geht es per Lift nach oben zur Pressekonferenz. Im Fahrstuhl stehen jetzt für kurze Zeit Schaaf und Allofs allein zusammen mit Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld sowie Manager Hoeneß. Hitzfeld sagt zu den Bremern: Wir machen das oben gleich so: Wir sagen bei der PK nur ganz kurz was, und dann gehört die Bühne euch!

18.45 Uhr: Wie die Stimmung in der OLT-Chartermaschine sein wird, die am Münchner Flughafen auf den Werder-Bus wartet, lässt sich leicht erahnen. Werders Schweizer Nationalspieler Ludovic Magnin kommt mit frisch gefärbten Haaren aus der Kabine. Sie sind jetzt grün-orange. Der Mannschaftsbus hat es nicht leicht, vom Stadiongelände wegzukommen. Alles voller jubelnder Werder-Fans. Der Bus bekommt Polizeigeleit.

21.20 Uhr: Landeanflug des Flugs OL 8602 auf den Bremer Flughafen. Auf dem Rollfeld hat man Bauzäune aufgestellt, dahinter warten Bremer Fans. Rund 10.000 Menschen seien es, schätzt Willi Lemke, der Ex-Manager und damalige Bildungssenator. Er ist auf dem Rollfeld der Animateur für die Fans. „Die Vokabel ‚niedermachen‘ gibt es seit heute nicht mehr“, ruft der Mann, dessen verbale Gefechte mit Uli Hoeneß lange Zeit die Fußballkultur im Lande mitgeprägt hatten.

21.25 Uhr: Die OLT-Maschine dreht eine Ehrenrunde in der Luft und schaukelt einmal grüßend mit den Tragflächen. Und dann folgt das wohl ausdrucksstärkste Bild des Tages. Eine Dachluke des Flugzeugs öffnet sich, Thomas Schaaf taucht auf. Er hält Jeanne-d‘Arc-gleich eine Werder-Fahne in den Wind. Medienchef Tino Polster reicht ihm eine Videokamera. Dass auf dem Film, weil er die Kamera zu hoch gehalten habe, nur eine Betonmauer zu sehen sind, sei eine Legende, sagt Schaaf. Ein bisschen Jubel sei schon auch drauf.

21.50 Uhr: Es dauert, bis Spieler und Fans wieder getrennt werden und die Busse zur Mannschaftsfeier in „Grothenn‘s Gasthaus“ abfahren können. Es gelingt wieder nur mit Polizeigeleit. Die Bauzäune haben nicht lange gehalten, eine schwer besetzte Gangway wippt bedenklich. Selten ging es trubeliger zu auf dem vergleichsweise gemütlichen Flughafen.

22.45 Uhr: Auch bei „Grothenn’s“ ist es an diesem Tag extrem trubelig. Magnin ist nicht mehr der einzige Spieler mit grün-orangenen Haaren, auch Ivan Klasnic und Johan Micoud tragen jetzt die Farbe des Tages. Verteidiger Mladen Krstajic, der wie Ailton zu Schalke wechseln wird, spielt auf einem der Tische im Gasthaus ein Luftgitarrensolo. So erzählen es Augenzeugen später. Klaus Allofs raucht genüsslich eine Meister-Zigarre. Thomas Schaaf raucht nicht mit. Er hatte im Vorjahr mit dem Rauchen aufgehört.

23.30 Uhr: Die Party ist noch lange nicht vorbei, etliche Spieler werden die Nacht zum Tag machen und später noch weiterziehen in eine Disco in der Innenstadt. Thomas Schaaf wird sich gegen Mitternacht aus dem Gasthaus verabschieden. Er hat am Sonntag einen wichtigen Termin. Seine Tochter Valeska spielt mit ihrer Findorffer Mannschaft in der Unihalle um die deutsche Jugendmeisterschaft im Korbball. Thomas Schaaf hat seiner Tochter versprochen, in die Halle zu kommen. Er ist keiner, der solche Versprechen nicht einhält. Auch wenn sein SV Werder an diesem Wochenende Deutscher Fußballmeister geworden ist.

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