Garantiert hatte es die Stadionregie gar nicht als Scherz gemeint, ein paar Lacher auf der Tribüne gab es trotzdem. Da lief im Dortmunder Signal-Iduna-Park gerade die 84. Minute, als auf der Leinwand eine kleine Statistik eingeblendet wurde: Für die meisten Borussen-Torschüsse im Spiel hatte Mahmoud Dahoud gesorgt. So weit, so normal. Absurd und unfreiwillig komisch wurde die ganze Angelegenheit jedoch dadurch, weil dort eine dicke Eins stand – und Dahoud bereits nach 18 Minuten verletzt ausgewechselt werden musste. Trotzdem führten die Gastgeber zu diesem Zeitpunkt mit 2:0. Noch. Denn das Statistik-Kuriosum war nur der Auftakt zu einer Schlussphase, die an Verrücktheiten nicht zu überbieten war. Der SV Werder drehte das Spiel. Binnen sechs Minuten. Durch drei Joker-Tore. Das hatte die Bundesliga in ihrer Historie noch nie erlebt. Werder hat mit diesem Rekord mal wieder alle überrascht. Und begeistert.
„Wenn man in der Schlussphase solch ein Spiel umbiegt, braucht man sicherlich auch immer ein Quäntchen Glück“, räumte Ole Werner hinterher ein, betonte aber: „Trotzdem war der Sieg nicht unverdient.“ Und damit hatte der Bremer Chefcoach komplett Recht. Werder hat sich diesen wahnwitzigen Triumph nicht irgendwie ergaunert oder gar geschenkt bekommen, Werder hat ihn sich mit großem Aufwand erarbeitet. Das belegen auch die statistischen Zahlen, die hinterher wirklich von Gewicht waren. Die Gäste hatten nämlich mehr Torschüsse zu bieten (14:6), mehr Ecken herausgeholt (5:3), überzeugten mit der größeren Laufleistung (115,28 zu 114,5 Kilometer), verfügten über mehr Ballbesitz (51:49 Prozent) und gingen auch aus mehr Zweikämpfen als Sieger hervor (53:47 Prozent). Gegen ein millionenschweres Topteam wohlgemerkt. Werder hatte dieses Spiel also im allerwahrsten Sinne – und das machte es noch besonderer – gewonnen.
„Ich habe mich unheimlich geärgert beim 0:2, weil ich es als sehr unverdient angesehen habe. Es wäre am Ende selbstverschuldet gewesen, aus einem sehr, sehr guten Spiel zu wenig zu machen“, erklärte Werner später. Der gebürtige Bremer Julian Brandt (45.+2) und Raphael Guerreiro (77.) hatten den insgesamt so enttäuschenden Favoriten mit zwei Distanzschüssen schmeichelhaft in Führung gebracht und dafür gesorgt, dass etliche Fans der Borussen schon vorzeitig das Stadion im Gefühl des sicheren Sieges verließen, um dem vorherrschenden Verkehrschaos zumindest auf der Rückreise zu entkommen. So verpassten sie die bislang denkwürdigste Schlussphase der Bundesliga-Geschichte. Und einen unheimlich erleichterten Ole Werner: „Ich freue mich, dass ich hier jetzt nicht stehe und eine Niederlage erklären muss“, sagte er schmunzelnd.
Werder-Start: Fünf Punkte aus drei Spielen
Das Problem an der Sache: So richtig erklären konnte er die spektakulären Schlussminuten seiner Mannschaft auch nicht. Vor allem nicht, als nach den schon erlösenden Treffern von Lee Buchanan (89.) und Niklas Schmidt (90.+3) tatsächlich noch die Krönung durch Oliver Burke (90.+5) gelang. „Ich hätte in dem Moment auch nicht gedacht, dass sich das Spiel nochmal so öffnet und beide Mannschaften nochmal Harakiri gehen“, sagte der 34-Jährige. „Es war eine Situation, die beim Gegner so leicht nicht entstehen darf und normalerweise auch nicht entsteht. Gut für uns.“ Der Rest war kollektive grün-weiße Ekstase. Was Ole Werner nach dem 3:2 durch den Kopf gegangen ist? „Eigentlich nicht viel. Da freut man sich einfach, weil es der Wahnsinn ist“, gestand er lachend. Auch Verteidiger Amos Pieper hatte hinterher Mühe, die Bremer Gefühlswelt in Worte zu fassen: „Ich glaube, dass viele noch gar nicht checken, was hier überhaupt passiert ist“, meinte der Ex-Dortmunder. „Ich müsste jetzt lügen, wenn wir nach dem 2:2 gesagt hätten: ,Kommt Jungs, jetzt schaffen wir hier auch noch den Sieg‘.“
Haben sie aber. Fünf Punkte aus drei Spielen hat Werder nun zum Start geholt. Nicht schlecht für einen Aufsteiger, bei dem niemand vorher so genau wusste, wohin die Reise gehen würde. Fast entscheidender als das Punkten selbst war allerdings das Wie. Die bisherigen Bremer Auftritte haben Signale gesendet, die Konkurrenz womöglich nachhaltig beeindruckt. „Wir wollen nicht zu früh zu viel Euphorie haben und schauen deshalb von Spiel zu Spiel“, mahnte deshalb Milos Veljkovic sicherheitshalber. Und auch Amos Pieper trat bei aller Begeisterung über den Coup beim BVB etwas auf die Bremse: „Das ist jetzt sehr floskelmäßig, aber im nächsten Spiel sind es wieder 90 Minuten. Wir spielen am Sonntag zu Hause gegen Eintracht Frankfurt, da beginnt alles wieder bei 0:0“, hob er hervor. „Und da können wir uns für den Respekt nichts kaufen.“ Die vitalisierende Energie, die nach diesem Saisonstart an der Weser entstanden ist, will er aber nicht missen. „Unserer Rolle sind wir uns bewusst, aber wir sind uns spätestens seit heute auch bewusst, dass wir gegen jeden Gegner, in jeder Situation, in jedem Spiel auf drei Punkte spielen können“, betonte Pieper.
Das klang beinahe wie eine Drohung an die Konkurrenz. Eine, die keineswegs aus der Luft gegriffen ist. Die neue verbale und fußballerische Angriffslust erinnert ganz allmählich an verloren geglaubte Spektakel-Zeiten. Werder steht zumindest im Moment wieder für beste Unterhaltung. Auch ohne belustigende Einblendungen auf der Anzeigetafel.