Am Ende ist Stille. Ganz ruhig ist es jetzt unter der Ostkurve des Weserstadions. Werder ist abgestiegen. Vorhin haben die Menschen hier unten noch zusammen gesungen. Auf und ab gehüpft sind sie, gerade so, als stünden sie in der Ostkurve und nicht darunter. Sie haben den Spielern, die drinnen im Stadion um den Klassenerhalt spielen, ihre Energie, ihre guten Gedanken, ihre Zuversicht geschenkt.
Jetzt ist alles aus. Als habe jemand einen Stecker gezogen. Alle Energie, jeder gute Gedanke, jede Zuversicht sind verschwunden. Einige Fans haben sich in stille Ecken verzogen. In diesem Moment wollen sie für sich sein. Andere lassen ihren Gefühlen freien Lauf. Ein Mann, der so aussieht, als habe er die guten, alten Zeiten unter Otto Rehhagel als Jugendlicher erlebt, weint hemmungslos. Ein anderer hat sich über ein Geländer gelehnt und heult so laut, dass es einem das Herz zerreißt. Werder ist abgestiegen.
Nicht jeder macht die Enttäuschung mit sich selbst aus. Bei einigen ist die Lunte ziemlich kurz. Zu viel haben sie in diese Saison und in dieses Finale investiert, als dass sie jetzt, nach einem peinlichen 2:4 gegen Mönchengladbach auch die x-te Enttäuschung noch kommentarlos schlucken wollen. Werder ist abgestiegen.
"Baumann raus", werden einige Fans nachher noch fordern. Jetzt zertrümmert einer seinen Regenschirm, wieder und wieder schlägt er mit dem Schirm auf den Asphalt ein, bis das gute Stück zerfetzt ist. Eine leere Bierdose fliegt, irgendwo zersplittert eine Bierflasche. Ein Mann schreit einen anderen an. Böse Blicke werden gewechselt, bis zwei Begleiter einen der beiden Männer zur Seite schieben. Die Polizei erhöht ihre Präsenz an der Ostkurve. Es liegt etwas in der Luft. Negative Schwingungen.
Es ist keine 20 Minuten her, dass sie hier unterhalb der Ostkurve noch gejubelt haben, als hätte Werder das entscheidende Tor zum Klassenerhalt erzielt. Dabei war Werder selbst zu diesem Zeitpunkt schon hoffnungslos verloren. 4:0 führte Mönchengladbach im Weserstadion. Aber die Hoffnung lebte trotzdem. Weil in Köln ein Tor für den heimischen Eff-Zeh aberkannt wurde. Der Videoschiedsrichter hatte eingegriffen, statt 1:0 für Köln stand es weiterhin 0:0 gegen Schalke. Damit war Werder zu diesem Zeitpunkt wenigstens noch in der Relegation.
„Ein Scheißgefühl von Schalke abhängig zu sein“, sagt Aaron Kuite. „Alter, ist das spannend“, sagt Stefan Fast. Die beiden jungen Männer sind an diesem Tag frühmorgens mit ihrem Kumpel Thorsten Reefmann in Bad Bentheim losgefahren, um Werder zum Klassenerhalt zu verhelfen. Corona-Test gemacht, Bier eingekauft und ab die Post. Um 13 Uhr treffen sie am Stadion ein. Genug Zeit, um sich auf die Ankunft des Mannschaftsbusses mit ein paar Bierchen einzustimmen. Und dann kommt der Bus mit den Werder-Spielern um kurz nach 14 Uhr. „Und mein Gott“, sagt Reefmann, „was ist da bitteschön abgegangen.“ Ja, was ist da abgegangen!
Im Schritttempo nur schafft es der Bus die Rampe an der Ostkurve hinunter. Bestimmt 3000, vielleicht sogar 4000 Fans stehen Spalier. Bengalos in Grün und Weiß werden gezündet, vor lauter Nebelschwaden ist der Bus fast nicht mehr zu sehen. Die Fans singen, „Niemals zweite Liga“, „Forza SVW“ und „Hier regiert der SVW“. Abstand halten hier nur wenige, auch auf die Maskenpflicht pfeifen viele. Polizisten marschieren auf. Wenn es ihre Aufgabe ist, das Gedränge aufzulösen, haben sie keine Chance. Die Beamten sind klar in Unterzahl.
Auf einem 20 Meter langen Banner steht „Kämpfen Werder“, auf einem anderen Transparent „Bedingungslos Werder“. Ein junges Mädchen hält ein Pappschild hoch mit der Aufschrift „Danke Theo“. Gemeint ist Rechtsverteidiger Theo Gebre Selassie, der nach neun Jahren bei Werder den Verein und die Stadt nach dieser Saison verlassen wird. Als Erstligist, hoffen alle um diese Zeit noch.
Auch Aaron Kuite und seine Jungs aus Bad Bentheim sind noch zuversichtlich. Auf dem Weg zum Stadion haben sie Christoph aus Wolfsburg kennengelernt. Er hat ein weißes T-Shirt am Geländer unterhalb der Ostkurve aufgehängt, „Mit ganz viel Herz und der Raute in der Hand zum Klassenerhalt“ hat er mit Filzstift darauf gekritzelt.
Jetzt drängen sich er und die drei Jungs aus Bad Bentheim um zwei Handys. Auf einem Display läuft das Werder-Spiel, auf dem anderen der Liveticker mit den Zwischenständen von den anderen Begegnungen, die für Werder wichtig sind. Um die Freunde herum tanzen die Menschen noch, das Spiel hat gerade angefangen, die Leute bringen sich in Stimmung. Dass im Weserstadion nach nur drei Minuten schon das erste Tor für Gladbach fällt, bekommen die meisten hier draußen gar nicht mit. Sie singen und tanzen einfach weiter. Nur Kuite hat so eine Ahnung: „Das fängt ja gut an.“
Tatsächlich wird es nicht besser. Mitte der ersten Halbzeit rücken Polizei und Ordnungsamt an der Ostkurve an, weil Abstandsregeln und Maskenpflicht von den meisten missachtet werden. Nach und nach schicken die Beamten Fans weg. Die Jungs aus Bad Bentheim dürfen bleiben. Und müssen am Handy miterleben, wie Werder in der zweiten Halbzeit erst das 0:2 kassiert, dann das 0:3, schließlich das 0:4. „Das ist ja peinlich“, sagt Kuite. „Unglaublich, wie schlecht man in so einem wichtigen Spiel spielen kann“, sagt Fast.
Schnell einigen sie sich darauf, das Werder-Spiel wegzuschalten und sich nur noch die Partie in Köln anzuschauen. Wenigstens in die Relegation zittern jetzt, denken sie. Dass Werder noch zwei Tore schießt – geschenkt. „Höchstens noch fünf Minuten“, sagt einer, 0:0 steht es zwischen Köln und Schalke. Damit bliebe Werder immerhin auf dem 16. Platz.
Dann sind es noch vier Minuten reguläre Spielzeit in Köln, als ein Kölner Spieler den Ball hoch in den Schalker Strafraum schlägt und ein anderer Kölner hoch zum Kopfball steigt. Welcher Spieler das ist, ist auf dem kleinen Display nicht zu erkennen, und es ist auch völlig egal, denn es zählt einzig das Resultat: Tor für Köln. Und diesmal gilt es. In diesem Moment rutscht Werder auf einen Abstiegsplatz.
Aaron Kuite mag nicht mehr hinschauen. Er mag auch nichts mehr sagen. Nachspielzeit in Köln, fünf Minuten. Fünf Minuten Hoffnung. Für Werder. Auf ein Schalker Tor. Aber das fällt nicht mehr. In Köln ist Schluss. Aaron Kuite hockt zu diesem Zeitpunkt längst vor einem der mächtigen Betonpfeiler, die die Ostkurve stützen. Er will jetzt allein sein. Werder ist abgestiegen.
Es folgen Proteste wütender Fans, die ins Weserstadion drängen und dabei von der Polizei gestoppt werden müssen. Der Zorn der Fans richtet sich vor allem gegen die Verantwortlichen. „Vorstand raus“, skandieren sie – und „Baumann raus“. Erst als die Polizei durchsagt, dass sich Verantwortliche und Spieler nicht mehr im Stadion befänden, beruhigt sich die Lage wieder.