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Kanzlerin Merkel als letzte Zeugin im Abgas-Untersuchungsausschuss: Von Manipulationen will sie erst aus den Medien erfahren haben Die Unwissende

Berlin. Mittwochnachmittag im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestags: Der Abgas- Untersuchungsausschuss vernimmt seine letzte Zeugin. Kanzlerin Angela Merkel soll erklären, wann sie von den Abgasmanipulationen bei Volkswagen erfahren hat und was die Bundesregierung in der Vergangenheit unternahm, damit die Konzerne sich auch tatsächlich an geltende Emissions-Vorschriften halten.
09.03.2017, 00:00 Uhr
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Von Thorsten Knuf

Berlin. Mittwochnachmittag im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestags: Der Abgas- Untersuchungsausschuss vernimmt seine letzte Zeugin. Kanzlerin Angela Merkel soll erklären, wann sie von den Abgasmanipulationen bei Volkswagen erfahren hat und was die Bundesregierung in der Vergangenheit unternahm, damit die Konzerne sich auch tatsächlich an geltende Emissions-Vorschriften halten. In der Branche ist seit dem Beginn des Skandals im ­September 2015 einiges ins Rutschen ­geraten. Der Diesel-Motor hat inzwischen einen schlechten Ruf, die Menschen sorgen sich um ihre Gesundheit. Und die Politik sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, bis heute Erfüllungsgehilfin der Autohersteller zu sein.

Merkel macht am Mittwoch das, was vor ihr auch schon andere Zeugen im Ausschuss taten: Sie gibt die Unwissende. Als ehemalige Umweltministerin sei sie zwar im Grundsatz seit vielen Jahren mit dem Thema Auto-Emissionen vertraut. Von den massenhaften Manipulationen bei VW habe sie aber auch erst im September 2015 „aus den Medien“ erfahren. Auch der Begriff Abschaltvorrichtung sei ihr bis dahin nicht geläufig gewesen. Im Übrigen habe sie sich als Kanzlerin in der Vergangenheit vor allem dann mit der Autoindustrie befasst, wenn es um Klimaschutz und die Minderung des Kohlendioxid-Ausstoßes gegangen sei. Da sei es bis vor Kurzem noch Konsens gewesen, dass der Dieselmotor einen wichtigen Beitrag leisten könne.

Angela Merkel beruft sich bei ihrer Vernehmung häufiger auf Erinnerungslücken. Sie weist auch den Vorwurf zurück, dass Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) und sein Haus weiterhin alles tun, um den Skandal klein zu halten. „Ich fühlte mich immer gut informiert vom Verkehrsministerium“, sagt sie. Dobrindt selbst hatte unlängst den Abgeordneten im Ausschuss Rede und Antwort gestanden. Das Gleiche gilt für seine Amtsvorgänger Peter Ramsauer (CSU) und Wolfgang Tiefensee (SPD). Auch der ehemalige VW-Chef Martin Winterkorn war da. Wenn man so will, reiht sich Merkels Aussage nahtlos in deren Einlassungen ein. Niemand will vor Bekanntwerden des VW-Skandals im September 2015 gewusst haben, dass Volkwagen und wohl auch andere Hersteller systematisch technische Vorrichtungen benutzten, um Abgas-Messungen zu manipulieren.

Unabhängige Fachleute halten das für hanebüchen: In der Branche ist seit Jahrzehnten bekannt, dass Konzerne mit allen Tricks arbeiten, um ihre Autos auf dem Papier umweltfreundlicher aussehen zu lassen, als sie tatsächlich sind. Auch das Umweltbundesamt und der ADAC hatten bereits vor vielen Jahren Alarm geschlagen. Es gab eine breite Medien-Berichterstattung und Brandbriefe an die Bundesregierung, was dort aber niemand ernst nahm.

Volkswagen verbaute millionenfach eine Betrugssoftware, die erkennt, wann ein Fahrzeug auf dem Rollenprüfstand steht. Nur dann wird ein Abgas-Reinigungssystem zugeschaltet. Fährt das Auto hingegen im Normalbetrieb auf der Straße, stößt es Stickoxid-Mengen aus, die die gesetzlichen Grenzwerte um ein Vielfaches überschreiten. Es waren die amerikanischen Umweltbehörden, die den Skandal 2015 ans Licht brachten. Stickoxide (NOx) sind für Atemwegserkrankungen verantwortlich. Europaweit werden jedes Jahr mehrere Zehntausend vorzeitige Todesfälle darauf zurückgeführt. Diesel-Motoren stoßen besonders große Mengen Stickoxid aus.

Abschalt-Einrichtungen, wie VW sie bis zuletzt verwendete, sind seit 2007 EU-weit verboten. Die Branche schien das nur bedingt zu beeindrucken. Und sie konnte sich grundsätzlich sicher sein, bei den zuständigen Ministern und Regierungschefs immer auf viel Verständnis für ihre Anliegen zu stoßen. Und zwar auch dann, wenn es darum ging, den Gang der Brüsseler Umwelt-Gesetzgebung zu beeinflussen.

Merkel selbst traf sich 2010 auch mit dem damaligen Gouverneur des US-Bundestaats Kalifornien, Arnold Schwarzenegger. Mit dabei war die Chefin der kalifornischen Umweltbehörde, Mary Nichols. Nach ihrer Darstellung soll Merkel bei der Unterredung die strengen Vorgaben für Dieselautos moniert haben, und zwar auch in Bezug auf Stickoxide. Merkel stellt das am Mittwoch gar nicht in Abrede. Sie erklärt das aber so, dass es ihr vor allem um Klimaschutz gegangen sei. „Es war nicht als Attacke auf die kalifornische Umweltgesetzgebung gemeint.“

Bis Juni will der Abgas-Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht vorlegen. Es wird noch viel Streit geben: Grünen-Obmann Oliver Krischer spricht am Mittwoch vom „größten Industrieskandal der vergangenen Jahre“. Die deutschen Behörden hätten vollständig versagt und wissentlich weggeguckt. Der Unions-Obmann Ulrich Lange (CSU) meint hingegen, es finde sich „absolut kein Anhaltspunkt für das von der Opposition fast schon gebetsmühlenartig vorgehaltene Staatsversagen“.

VW muss sich als Konsequenz aus den Abgas-Fälschungen auch mit klagenden Aktionären auseinandersetzen. Das Oberlandesgericht Braunschweig bestimmte nun die Sparkassen-Fondstochter Deka Investment GmbH zur Musterklägerin eines großen Verfahrens. Alle weiteren Kläger seien Beigeladene, teilte das Gericht am Mittwoch mit. Es geht bei den rund 1470 Klagen um eine Schadenssumme von 1,9 Milliarden Euro. Darüber hinaus seien etwa 70 weitere Verfahren gegen die Volkswagen AG beim Landgericht Braunschweig anhängig. Das Gesamtvolumen der Schadensersatzklagen liegt bei 8,8 Milliarden Euro.

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