Es ist 22,9 Zentimeter lang, 19 Zentimeter tief und 10,9 Zentimeter hoch, eine Schnitzerei aus Walknochen und im Britischen Museum in London zu sehen. Versehen ist es mit Figuren, Gegenständen und einer zunächst willkürlich aussehenden Verzierung: das Runenkästchen von Auzon. Anfang des siebten Jahrhunderts im angelsächsischen Northumbria hergestellt, wurde es im Jahr 1867 vom Kurator des Britischen Museums, Sir Augustus Franks, gestiftet. Das Kästchen wird deshalb auch Franks Casket genannt. Viele Wissenschaftler haben sich an der Entschlüsselung des Runenkästchens von Auzon versucht, so auch Alfred Becker. „Das Kästchen ist faszinierend und eine geschlossene Welt“, sagt der Nordbremer.
Das Runenkästchen von Auzon beschreibt laut Becker das Leben eines nordischen Kriegers von dessen Geburt bis hin zu dessen Tod und Aufstiegs nach Walhall, dem Götterpalast in der nordischen Mythologie. Die Details, die Bedeutung und das schiere Wissen, das der Hersteller zu dieser Zeit besessen haben muss, begeistern den heute 83-Jährigen noch immer. Seit mehr als 50 Jahren setzt sich Becker schon mit Franks Casket auseinander.
Angefangen habe alles im Anglistik-Studium: Im letzten Oberseminar vor dem Staatsexamen sollte er in einem Referat zwei alte Stabreimverse – die Verse vom Wal – erklären. Becker nahm die Aufgabe an und fand heraus, dass die Verse auf der Vorderseite des Runenkästchens stehen, und übersetzte sie ins Lateinische. „Aber das konnte es ja nicht gewesen sein, ich habe mich da etwas unterfordert gefühlt“, sagt Becker.
Er hatte gerade Semesterferien, also begab er sich in ein skandinavisches Seminar und befasste sich mit den Runen und deren Gebrauch. „Ich war neugierig“, sagt Becker. Schnell stellte er fest, dass sich die Inschriften an allen Seiten sowie auf dem Deckel auf die Bilder beziehen, nur an der Vorderseite nicht. Becker analysierte sie – und brachte Inschrift und die beiden Bilder zusammen. „Die Bilder zeigen eine noble Geburt und den begleitenden Schutz durch die Fylgja, einen Schutzgeist der nordischen Mythologie“, erklärt er.
Die Inschrift, deren Stabreime das Stranden und Sterben des Wals beschreiben, stehe für die geldwerten Dinge, die der abgebildete Schmied schafft, und für die Gaben, die einem König, in diesem Fall Christus, geschuldet sind. „Das altenglische ,feohgift‘ beschreibt das, was das Kästchen beinhaltet: Goldene Gaben, die der Herrscher in der Halle ehrend unter seinen Gefolgsleuten verteilt“, folgert Becker.
Diese Erkenntnisse schrieb der Student zunächst in seinem Referat nieder, ehe sein Professor auf ihn zukam. „Er hat gesagt: ,Du machst jetzt nicht dein Staatsexamen, du promovierst.‘“ Zu bedeutend sei das gewesen, was Becker, der Lehrer für Englisch und Religion werden wollte, dort entdeckt habe. Er ging für ein halbes Jahr nach London, traf Archäologen, Historiker – und machte im Britischen Museum eine laut Becker magische Begegnung. „Ich durfte das Kästchen in meinen Händen halten.“
Ende der 60er-Jahre schrieb Alfred Becker seine Dissertation über Franks Casket, arbeitete anschließend an der Universität Regensburg und lehrte als Gastprofessor an der Midwestern University in Texas. „Dann sollte ich die geplante Summer University in Regensburg leiten, doch das kam nicht zustande, weil dort die Pflichtfremdsprachen abgesetzt wurden.“ Die Nachricht erhielt Becker zufällig in Bremen, als er sein Hab und Gut aus den USA aus dem Hafen holte. „Ich habe mich dann spontan beim Senator für Bildung und Wissenschaft vorgestellt – und wurde als Studienrat eingesetzt“, sagt Becker.
Er arbeitete unter anderem am Gerhard-Rohlfs-Gymnasium, wurde als Gründungslehrer für das Schulzentrum Sandwehen abgeordnet und wechselte schließlich an eine Schule in Ganderkesee. Mit seinen Klassen ging er immer wieder auf Reisen: nach London, Nordirland und in die USA. „Irgendwann Anfang der 70er habe ich dann auch mein Staatsexamen auf dem freien Weg nachgeholt“, sagt Becker.
Es ist viel passiert in dieser Zeit: Becker wurde bereits 1964 Vater eines Sohn, die Ehe mit seiner ersten Frau zerbrach. Er trat in die CDU ein und wieder aus, Ende der 70er kaufte Alfred Becker sein Haus in Bremen-Grohn. Er pflanzte eine Kiwi im Garten, die seither für viel Aufmerksamkeit sorgte. Er riss 1990 ein Stück Zaun aus dem Todesstreifen der Berliner Mauer, der nun als Kompostbehälter dient. Er heiratete 1996 seine zweite Frau, Veronika. Und er trat in den Verein Deutscher Sprache ein, weil er sich am Niedergang der Muttersprache mitschuldig fühlte.
Sobald es aber um das Runenkästchen geht, platzt es nur so aus Alfred Becker heraus. Er könne stundenlang erzählen über Vermutungen, Ideen, Bedeutungen, sagt er. Seit er 1999 wegen einer Tinnitus-Erkrankung in den Ruhestand ging, widmete er sich wieder voll und ganz der Forschung am Runenkästchen von Auzon. Er entdeckte weitere vermeintliche Zusammenhänge. Unter anderem, dass jede Rune einen eigenen Wert hat. Inzwischen hat er beinahe das gesamte Kästchen analysiert; es gebe nur wenige Details, für die ihm noch die Erklärung fehlten. Alles, was er weiß, hat er nun in einem Buch zusammengetragen. „Franks Casket – Das Runenkästchen von Auzon“ heißt es. 250 Exemplare wurden im ersten Druck hergestellt, weitere sollen folgen. „Ich freue mich besonders auf die englische Ausgabe“, sagt er.
Ob er sein Leben dem Runenkästchen von Auzon verschrieben habe? Alfred Becker ist überzeugt, dass es manchmal eben zu viele Zufälle auf einmal gebe, um sie noch als Zufall abzutun. „Jeder hat eine Lebensaufgabe, und ich habe eben die Aufgabe bekommen, mich mit diesem Kästchen zu beschäftigen.“ Er werde das solange tun, wie es ihm möglich ist. Zwei Dinge wolle er aber gerne noch erleben: Zum einen, dass die Erkenntnisse und Entdeckungen über Franks Casket auch in der Fachwelt die nötige Anerkennung finden. Denn Alfred Beckers Interpretationen haben sich noch nicht durchgesetzt. Zum anderen will er gerne seine Bücher-Trilogie zu Ende schreiben. Die fiktive Geschichte einer Familie behandelt, wie könnte es anders sein, die drei dem Leben zugewandten Seiten des Runenkästchens von Auzon: Geburt, Auszug in den Kampf und Erfolg.