Kiel, ach ja. Die Stadt, der das Alster-Flair von Hamburg fehlt und der Atem der Geschichte, der noch durch den kleinsten Lübecker Hof weht. Die es auch mit dem hanseatisch-gemütlichen Charme Bremens nicht aufnehmen kann. Was also von Kiel lernen? Die Frage stellt sich vor allem, wenn man auf die Kieler Innenstadt schaut – flankiert von Kreuzfahrtschiffterminals und kriegsbedingt nackt an historischen Gebäuden. Von Kiel kann man lernen, was passiert, wenn man an die Zukunft glaubt.
Mitten in der Innenstadt liegen zwei Kinder platt auf dem Bauch auf Holzplanken und lassen die Hände ins Wasser baumeln. Warm ist es, die Sonne scheint ihnen auf den Rücken. Einige Meter weiter fläzt sich ein Pärchen auf einer kleinen Insel, die Sonnenbrillen auf den Nasen, die Jacken abgeworfen. Möwen kreischen, die Leute plaudern, sonst ist kaum ein Geräusch zu hören. Regelmäßig rollt ein Hybrid- oder Elektrobus vorbei, deutlich seltener lärmt einer mit Dieselmotor um die Kurve. Das ist die Zukunft der Kieler Innenstadt.
Für sechs Millionen Euro hat die Stadt das Holstenfleet gebaut, das während des Planungsprozesses auch als "Kiels Venedig" oder "Stadtoase" gehandelt wurde. Ein Fleet ist ein Wasserlauf, und in diesem Fall besteht er aus einem Kanal und einem großen Wasserbecken, getrennt durch eine Brücke. An derselben Stelle fuhren früher Autos, mehrspurig in beide Richtungen, eine Bushaltestelle gab es und einen Kreisverkehr. Wer jetzt dort stehen bleibt, mitten in der Fußgängerzone, sieht zur Linken den Kanal, gesäumt von gemütlichen, breiten Stufen zum Sitzen und einer kleinen Promenade, an der sich mehrere Gastronomiebetriebe angesiedelt haben. Zur Mittagszeit sind die Tische voll besetzt. Auf der anderen Seite das Becken, mit drei ins Wasser hineinragenden, inselartigen Plattformen. Gemütlich ziehen sich Sitzstufen bis zur Fußgängerzone, unterbrochen von Landinseln, bepflanzt mit Schilfgräsern.
Neuer Treffpunkt in der Innenstadt

Vorne das Holstenfleet, dahinter der Bootshafen und schließlich die Förde: Wasser ist prägend für die Kieler Innenstadt.
"Wir hatten keinen Zweifel, ob es klappt", sagt Felix Schmuck. Er leitet das Kieler Stadtplanungsamt und hat vorgeschlagen, am Holstenfleet eine kurze Pause vom Innenstadtrundgang einzulegen. Dabei hätte es viele Anlässe zum Zweifeln gegeben: Ob es gelingt, die von Kaufhausfassaden, Fast-Food-Restaurants und Handy-Shops geprägte Umgebung in ein anregendes Geschäfts- und Wohnumfeld zu verwandeln. Und ob es klappt, die Menschen für dieses Projekt zu begeistern.
"Das Holstenfleet wurde geschmäht als Pissrinne", sagt Schmuck, "und die Leute sagten: Da am Kanal wird sich keiner hinsetzen." Aber der Stadtrat hatte sich 2015 klar für das Projekt ausgesprochen, zwei Wochen später klopften die ersten Investoren an. Wo früher ein Mobilfunk-Shop war, verkauft "Fleet Stulle" heute aufwendig belegte Brote und Getränke, die Gäste schauen – natürlich – aufs Wasser. Das ist übrigens klar und sauber, eben erst hat die Stadtreinigung mit einem Kescher zwei schwimmende Tüten herausgefischt. Ein Kaufhaus, ein großes Wohngebäude mit 114 Einheiten und ein Hotel sind am Fleet neu gebaut worden, gerade ziehen die ersten Mieter ein. Schmuck zieht Bilanz: Für jeden von der Stadt ausgegebenen Euro sind rund um das Holstenfleet 15 Euro Fremdinvestitionen hinzugekommen.
Und auch die Stimmung in der Stadtgesellschaft hat sich gewandelt. "Mit jedem Arbeitsschritt mehr haben die Kielerinnen und Kieler verstanden, was da passiert", erzählt Schmuck. Und jetzt sitzen sie hier, Sven Nagelberg zum Beispiel. "Wenn man mit Freunden überlegt: Wo wollen wir uns treffen?, dann kommt das hier jetzt infrage", sagt er. Für einen spontanen Kaffee komme er gern her, oder mit Besuch. Kiel werde dem Image einer Hafenstadt jetzt besser gerecht, meint Miriam, die mit einer Freundin auf den Stufen am Wasser sitzt. Und Ida und Kasper aus Aarhus fühlen sich an ihre dänische Heimatstadt erinnert, durch deren Stadtzentrum das Flüsschen Å fließt. Ein friedlicher, ruhiger Ort sei das Holstenfleet, sagt der junge Mann: "Es ist cool, dass die Stadt für so etwas Geld ausgibt."
Sechs Kieze prägen die Kieler Innenstadt
Teil des Kieler Innenstadt-Wandels ist auch die Erkenntnis, dass Profilbildung wichtig ist. Der Schlüssel dazu ist das Quartierskonzept "Kiel kann Kiez". Sechs Quartiere haben Innenstadt-Managerin Janine Streu und ein Beratungsteam ausgemacht, sie alle haben ihren eigenen Charakter – interessant für Bummelnde, aber auch für Geschäftsleute, die sich ansiedeln wollen.
Da ist zum Beispiel das Schloss-Quartier: Mehr als 200 Wohnungen und elf Gewerbeflächen sind in den vergangenen Jahren dort entstanden und haben aus der hinter dem Altstadtmarkt auslaufenden, eher hochpreisigen Fußgängerzone eine ganz neue Nachbarschaft gemacht. Das angrenzende Schloss, ein Nachkriegsklotz erbaut auf Ruinen, soll sich mehr für das Publikum öffnen, zum Erholungsort werden. Streu erkennt im Quartier Potenzial für Urban Gardening, Stadtplaner Schmuck träumt vom Tangotanzen im Freien.
Von hippen Surf-Shops und junger, nachhaltiger Mode hingegen ist der Kehden-Küter-Kiez geprägt, in der Oberen Holstenstraße sollen Nutzungskonzepte nach dem Motto "Innenstadt 4.0" getestet werden. Und der "Melting Pot" soll Handel, Produktion und Aufenthaltsqualität in der Fußgängerzone vereinen. Dazu sollen auch die "Kiel-Höfe" beitragen, die sich künftig vom historischen Pressehaus zu einem kleinen Platz hin öffnen. All diese Zuschreibungen sind lebendig und in Bewegung: "Sollte sich ein Kiez-Charakter mit der Zeit zurechtrücken, dann ist das so", sagt Streu. Eins aber ist klar: Seufzen muss man über die Kieler Innenstadt nicht mehr.