Herr Bovenschulte, überspitzt formuliert: Die ganze Stadt spricht über die Verkehrsprojekte Martinistraße und Am Wall, nur einer schweigt: der Bürgermeister.
Andreas Bovenschulte: Ihr Eindruck täuscht. Ich spreche regelmäßig mit den verschiedenen Akteuren darüber, wie wir unsere Innenstadt gemeinsam voranbringen können. Dabei spielt natürlich auch die Verkehrspolitik eine zentrale Rolle. Aber mein Ziel ist es, Konflikte zu lösen und nicht öffentlich anzuheizen. Für die Martinistraße wurde jetzt eine Lösung gefunden mit der, denke ich, alle Beteiligten gut leben können. Ab Ende November fließt der Verkehr wieder in beide Richtungen, allerdings auf zwei und nicht wie früher auf vier Spuren. Ich bin optimistisch, dass das die dauerhafte Lösung sein wird und damit die Kuh vom Eis ist, auch wenn die endgültige Entscheidung über die künftige Verkehrsführung erst im kommenden Jahr getroffen wird.
War die aufwendige Versuchsphase in der Martinistraße Ihrer Meinung nach für diese Feststellung nötig?
Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens, die Martinistraße zurückzubauen, um die Durchlässigkeit zwischen Innenstadt und Schlachte zu verbessern und dadurch die City aufzuwerten. Umstritten ist allerdings, wie weit der Rückbau gehen soll. Deshalb hat das Mobilitätsressort den Verkehrsversuch durchgeführt, um die beste Lösung zu finden und eine breite Diskussion anzustoßen.
Warum muss man einen aufwendigen, teuren Versuch starten, wenn es schon eine Lösung gibt, mit der alle leben können?
Ein Teil der politischen Akteure wollte und will einen sehr weitgehenden Rückbau der Martinistraße, eine Einbahnstraße oder sogar eine Vollsperrung für den Autoverkehr. Hier hat der Verkehrsversuch zur Klärung beigetragen. Er hat gezeigt, dass es dafür derzeit keine gesellschaftliche Akzeptanz gibt.
Sie weichen aus – aus Rücksicht auf Ihre Koalitionspartner?
Nein. Ich gehöre bloß nicht zu den Leuten, die hinterher immer schon alles vorher gewusst haben.
Wurden und werden Sie von Kaufleuten, von Händlern und Bürgern nicht auch darauf angesprochen und angemault?
Selbstverständlich. Aber das ist bei jedem Thema so, das die Menschen in Bremen und Bremerhaven bewegt. Dafür ist ein Bürgermeister ja auch da.
Schmerzen Sie die 1,3 Millionen Euro, die für den Versuch samt Begleitprogramm ausgegeben worden sind?
Ich kann die Kritik an einzelnen Maßnahmen des Verkehrsversuchs und den damit verbundenen Kosten durchaus nachvollziehen. Andererseits muss man sich vor Pauschalurteilen hüten. Das Begleitprogramm ist ja kein Selbstzweck, sondern verfolgt das richtige Ziel, zur Belebung der durch die Pandemie schwer getroffenen Innenstadt beizutragen.
Zum Wall: Wird im Senat diskutiert, ob und wann ein solcher Schritt wie die Umwandlung in eine Einbahnstraße sinnvollerweise umgesetzt wird? Beispielsweise nicht wie über Nacht?
Der Bau der Fahrrad-Premiumroute am Wall ist bereits im Koalitionsvertrag für die vorherige Regierung vereinbart worden. Und wenn wir nicht in die Wallanlagen bauen wollen, geht das nur mit einer Einbahnstraße. Die Umsetzung liegt wie bei allen Entscheidungen in der Verantwortung des jeweils zuständigen Ressorts.
Selbst wenn die Projekte richtig und wichtig sind, ist der Zeitpunkt der richtige? Der Handel ist von der Pandemie gebeutelt, hätte man nicht noch ein halbes Jahr warten können? Und wenn man Bürger schon mit dem Versuch in der Martinistraße auf die Palme bringt, muss man dann gleich mit dem Wall nachlegen?
Klar ist: Wir müssen die direkt Betroffenen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger auf dem Weg zur verkehrsarmen Innenstadt mitnehmen. Das hat hier sicher nicht optimal funktioniert. Aber im Grund sind sich doch alle einig: Für eine hochwertige Einkaufsmeile wie den Wall ist es keine dauerhafte Perspektive, in erster Linie eine Durchgangsstraße mit viel Lärm und Abgasen zu sein. Die durchfahrenden Autos und Laster dienen am Ende weder dem Wall noch den Händlern und Gastronomen dort. Gerade hier bietet sich eine Verkehrsberuhigung an und schafft mehr Aufenthaltsqualität.
Was sagen Sie den Händlern am Wall, die sich Sorgen um ihre Existenz machen?
Dass wir gemeinsam alles dafür tun sollten, den Wall weiter aufzuwerten und ihm eine dauerhafte Zukunftsperspektive zu geben.
Das heißt, dort wird noch kräftig investiert?
Wir wollen den Wall weiter aufwerten, und ich finde es richtig, dafür auch Geld in die Hand zu nehmen.
Eine Innenstadt-Strategie liegt auf dem Tisch. Sie soll für die nächsten zehn Jahren gelten. Haben Sie nicht den Eindruck, dass es ziemlich flott gehen muss, weil die Kunden sonst das Weite suchen, wenn sie Geld ausgeben wollen?
Erst einmal muss man eins festhalten: Dem Stadtentwicklungsressort, dem Wirtschaftsressort und der Handelskammer ist es gelungen, ein gemeinsames Programm vorzulegen. Das ist eine optimale Voraussetzung für die weiteren Schritte. Aber es gibt leider keinen Schalter, den man einfach nur umlegen muss, und alle Herausforderungen in der Innenstadt lösen sich in Luft auf. Das Konzept besteht aus vielen Punkten, Plänen und Projekten: beispielsweise der Entwicklung des Balgequartiers mit Stadtmusikanten- und Literaturhaus, der Nutzung des Sparkassen-Geländes am Brill als Wissenschaftsstandort und der Aufwertung des Domshofs. Alles wichtige und gute Vorhaben, die aber leider nicht von heute auf morgen umzusetzen sind.
Die Frage ist: Wie viel Zeit hat die Innenstadt?
Das eine ist, einen Abwärtstrend aufzuhalten, das andere ist, einen Aufwärtstrend anzustoßen. Vorsichtig optimistisch stimmen mich insoweit die Passantenzahlen in der Obernstraße für den September dieses Jahres, die besser sind als sie 2019 waren – also vor der Pandemie. Damit wollen und dürfen wir uns nicht zufriedengeben, aber es ist zumindest ein Anfang. Die Projekte, von denen wir hier reden, sollen noch in dieser Wahlperiode begonnen werden. Wir müssen die Finanzierung auf die Beine stellen und wollen auch in der Umsetzung schneller werden. Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt.
Wenn wir schon ungezwungen über hohe Millioneninvestitionen reden: Wie stehen Sie zu der Kardinalfrage, die Straßenbahn aus der Obern- in die Martinistraße zu verlegen?
Was auch immer wir da tun, muss vier Kriterien erfüllen: Es muss verkehrlich sinnvoll sein, es muss einen Beitrag zur Innenstadtentwicklung leisten, es darf die Stellung der Glocke nicht gefährden und es muss finanzierbar sein. Wir suchen also überspitzt formuliert nach der eierlegenden Wollmilchsau. Noch sind wir nicht so weit, dass alle Fakten für eine seriöse Entscheidung auf dem Tisch liegen. Zumal allen klar sein muss: Was da geschieht, wird sehr teuer werden und die Innenstadt für mehrere Jahrzehnte prägen. Da hat man quasi nur einen Schuss frei und muss ins Schwarze treffen.
Apropos teuer: Wie beurteilen Sie die bisherigen Kompromisslinien der werdenden Ampelkoalition?
Solche Verhandlungen leben von Kompromissen. Mit drei Partnern sind sie anspruchsvoller als mit zweien. Entsprechend gibt es wie immer Licht und Schatten. Insgesamt bin ich aber nicht unzufrieden.
Was bilanzieren Sie unter Licht?
Zum Beispiel den Mindestlohn von zwölf Euro, die Rentengarantie und die Vereinbarung zur Schaffung von mehr bezahlbaren Wohnungen.
Die SPD hat Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen können, heißt es, weil sie das Thema soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt gerückt hat. Die Jusos kritisieren, dass sich die SPD in den Sondierungsgesprächen in Fragen der Umverteilung nicht durchsetzen konnte. Die Vermögenssteuer wird nicht wieder eingeführt, der Spitzensteuersatz nicht angehoben.
Das stimmt, und ich bedauere das. Ich bin fest davon überzeugt, dass starke Schultern mehr tragen müssen als schwache, weil sie es können. Aber niemand kann davon ausgehen, dass eine Partei, die 25 Prozent der Stimmen bekommen hat, in Koalitionsverhandlungen 100 Prozent ihrer Ziele durchsetzt.
In Bremen kommt das nötige Geld für Programme und Investitionen aus dem Bremen-Fonds. Dass die Folgen der Pandemie abzufedern sind, leuchtet ein. Aber wie kann man aus dem Fonds neue Straßenbahnen finanzieren?
Wir wollen mit dem Geld aus dem Bremen-Fonds die Pandemie-Folgen abmildern und in die Zukunft investieren. Ein leistungsfähiges ÖPNV-System gehört für mich dazu.
Neue Bahnen hätte Bremen doch auch ohne die Pandemie anschaffen und finanzieren müssen. Der Bremen-Fonds scheint der größte Trumpf der Landesregierung für den kommenden Wahlkampf, weil er Investitionen möglich macht, die sonst wegen der Schuldenbremse nicht infrage gekommen wären.
Das stimmt so nicht. Die Pandemie hat die Verkehrsbetriebe erheblich getroffen. Wenn man dem ÖPNV zu alter Stärke verhelfen will, muss man in seine Qualität und seine Leistungsfähigkeit investieren. Beispielsweise durch den Kauf neuer Fahrzeuge. Es ist der gezielte Versuch, die negativen Entwicklungen der vergangenen Monate auszugleichen.
Sind diese enormen Schulden generationengerecht?
Keine Frage, wir dürfen den nachfolgenden Generationen keine überbordenden Schulden hinterlassen und müssen jeden Euro zweimal umdrehen, bevor wir ihn ausgeben. Aber wir dürfen unseren Kindern auch keine marode Infrastruktur vererben. Zwischen diesen beiden Polen bewegen wir uns. Illustrieren lässt sich das am Beispiel der Wasserstoffwirtschaft: Auf uns kommen in diesem Bereich enorme Investitionen zu, wenn wir die beantragte Bundesförderung kofinanzieren müssen, möglicherweise mit einem dreistelligen Millionenbetrag. Wir müssen dieses Geld aber aufbringen, um die Zukunft unserer Stahl- und Flugzeug- und möglicherweise unserer Automobilindustrie zu sichern.
Aber wir können uns doch nicht alles leisten. Die Folgen kennt Bremen als ehemaliges Haushaltsnotlage- doch wie kein anderes Bundesland.
Ich stimme Ihnen zu: Wir können uns nicht alles leisten, und das machen wir auch nicht. Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sind für uns von hohem Wert. Aber wer uns kritisiert, weil wir in seinen Augen zu viel Geld ausgeben, der sollte dann auch sagen, worauf wir verzichten sollen. Stattdessen wird häufig im gleichen Atemzug der Senat aufgefordert, mehr zu machen – mehr Schulen und Kitas zu bauen, mehr Turnhallen zu sanieren, mehr Radwege und Straßen auszubessern. Da machen es sich die Kritiker oft ein bisschen einfach.
Die Ampel-Koalitionäre wollen offenbar die Schuldenbremse erhalten. Wie stehen Sie dazu?
Meine fachliche Haltung dazu ist klar: Es ist für uns objektiv unmöglich, aus den laufenden Einnahmen alle notwendigen Zukunftsinvestitionen zu finanzieren, so wie die Schuldenbremse es derzeit grundsätzlich vorsieht. Zumal die Schuldenbremse in den Stadtstaaten auch für die Kommunen gilt, während die Städte und Gemeinden in den Flächenländern sich für Investitionen durchaus verschulden dürfen. Als Land mit der höchsten Schuldenlast sollten wir aber uns aus der Debatte um eine Reform der Schuldenbremse weitgehend heraushalten.
Das Gespräch führte Silke Hellwig.