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Bremer Wahrzeichen Vor 80 Jahren stürzte der Ansgarii-Kirchturm ein

Vor 80 Jahren, am 1. September 1944, stürzte der Ansgarii-Turm ein. Die Behörden hatten das Unglück kommen sehen, ein hölzernes Stützkorsett sollte das Bauwerk erhalten. Doch die Rettungsmission kam zu spät.
31.08.2024, 05:00 Uhr
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Vor 80 Jahren stürzte der Ansgarii-Kirchturm ein
Von Frank Hethey

Das letzte Stündchen des St.-Ansgarii-Kirchturms schlug am helllichten Tag. Kirchendiener Richard Warneke sah gerade nach dem Rechten, als es plötzlich zu knirschen und zu knarren begann. Plötzlich ein ohrenbetäubender Krach. Nach Angabe des Kirchendieners öffnete sich ein Spalt im Gemäuer des Turms und suchte sich langsam seinen Weg nach oben. Warneke rannte um sein Leben, hinter ihm rollte eine riesige Staubwolke heran. "Eiligst lief ich in die am weitesten vom Turm entfernte Kapelle hinein", berichtete er später. "Hinter mir stürzte der Turm mit großem Krachen ein."

Vor 80 Jahren, am 1. September 1944, um genau 12.25 Uhr bebte in der Altstadt die Erde. Binnen weniger Sekunden kollabierte der mittelalterliche Ansgarii-Turm, eines der prägendsten Wahrzeichen Bremens. "Eine besondere Merkwürdigkeit dieses Einsturzes liegt darin, daß vom Ansgariturm kaum eine Spur übrig geblieben ist", stellte die Bremer Zeitung konsterniert fest. Vom höchsten Kirchturm Bremens stand im wahrsten Sinne des Wortes kein Stein mehr auf dem anderen. Bis in die Obernstraße türmten sich meterhoch die Schuttmassen.

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Für die Bremer kam der Einsturz nicht überraschend. Schon zwei Wochen zuvor waren die umliegenden Häuser vorsichtshalber geräumt worden, hatte man Straßenbahnen und Autos die Durchfahrt durch die Obernstraße untersagt. Es war denn auch keine Bombe, die aus heiterem Himmel auf die Kirche fiel. Als der 97 Meter hohe Turm einstürzte, herrschte Ruhe im Luftraum über Bremen, kein einziger Feindflieger war in Sicht.

Zahlreiche Gebäude in der Nachbarschaft hatte der Bombenhagel in den ersten Kriegsjahren zerstört oder beschädigt, einzig der altehrwürdige Sakralbau war weitgehend verschont geblieben. Im Dezember 1943 endete die Glückssträhne: Vier Tage vor dem Weihnachtsfest schlug eine Sprengbombe neben dem Turm ins Fundament ein. Durch den metertiefen Krater senkte sich das Erdreich bedrohlich ab, das Gemäuer war im buchstäblichen Sinne in seinen Grundfesten erschüttert.

Den Behörden kann man nicht vorwerfen, müßig gewesen zu sein. Um die Standfestigkeit des Turms zu überprüfen, wurden Bohrungen vorgenommen und ein statisches Gutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis war nicht eben ermutigend, vor allem der Südostpfeiler galt als extremer Schwachpunkt. Umstritten ist, inwieweit der Bau des Ansgari-Bunkers in unmittelbarer Nähe die Stabilität des Kirchturms beeinträchtigt hat. Denkmalpfleger Ernst Grohne, der Direktor des Focke-Museums, drückte nun aufs Tempo. Nach und nach ließ er unersetzliche Zeugnisse der Kultur- und Kirchengeschichte aus dem gefährdeten Gemäuer schaffen.

Gegen Mitte August 1944 verdichteten sich die Anzeichen, dass der Turm akut einsturzgefährdet war. Schon seit Wochen hatte das Gemäuer vernehmlich vor sich hin geseufzt. Die Behörden machten sich auf das Schlimmste gefasst. Ein Turmwächter wurde engagiert, der Tag und Nacht seine Runden drehte und ein wachsames Auge auf das Gebäude warf. Damit ihm nicht die geringste Bewegung im Mauerwerk entging, brachte er Zementbänder an den Außenmauern an. Schon bald zeigten sie an, wie stark es in dem Bauwerk arbeitete. Einzelne Mauersteine wurden weit aus der Wand herausgedrückt, in manche Risse ließ sich bequem eine Hand stecken.

Um nicht unnötig Menschenleben aufs Spiel zu setzen, ordnete Polizeipräsident Johannes Schroers am 17. August die Evakuierung der noch bewohnten Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft und die Sperrung der Obernstraße an. Auf einem Foto, das nach dem verheerenden Luftangriff in der Nacht vom 18. auf den 19. August 1944 aufgenommen wurde, sind die Absperrgitter in Höhe der Brill-Kreuzung zu sehen. Im Hintergrund erhebt sich wie seit 600 Jahren der Ansgarii-Turm. Es ist das vielleicht letzte Bilddokument des Bauwerks.

Einfach hinnehmen wollte der Senat den drohenden Verlust des Bremer Wahrzeichens nicht. Auf Empfehlung eines Gutachters legte die Stadt am 26. August ein Sofortprogramm zur Rettung des ramponierten Gemäuers auf. "Sofern nicht schnellstens besondere Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden, wird damit zu rechnen sein, dass der Turm in absehbarer Zeit einstürzt", warnte Polizeipräsident Schroers. Ein Korsett massiver Stützbalken sollte das brüchige Mauerwerk vor dem Kollaps bewahren. Drei Wochen waren für die Stützaktion veranschlagt, danach sollten die eigentlichen Arbeiten zur Festigung des Turmfundaments beginnen.

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Doch es war zweifelhaft, ob der Turm so lange überhaupt noch durchhalten würde. Deshalb machte sich Schroers für eine radikale Lösung stark: "Unter den obwaltenden Umständen möchte ich im Interesse der öffentlichen Sicherung in Erwägung bringen, ob nicht zur Behebung der bestehenden grossen Einsturzgefahr eine umgehende Sprengung des Kirchturmes den geplanten Instandsetzungsarbeiten vorzuziehen ist." Einen Tag vor dem Einsturz wurde eine Krisenrunde einberufen. Die entscheidende Frage lautete, ob die Stützbalken überhaupt noch platziert werden sollten oder dem Schroers-Vorschlag der Vorzug zu geben sei. Man verständigte sich auf einen Kompromiss zur Rettung des Wahrzeichens: Die Straßenbahnen sollten wieder fahren dürfen, aber nur "unter gewissen technischen Voraussetzungen". Im Klartext: vorsichtiges Fahren, keine Haltestellen, kein Bremsen.

Doch schon sehr bald erwiesen sich alle Überlegungen und Absprachen als obsolet. Heftige Windböen zerrten am Turm, ihnen war das fragile Mauerwerk nicht mehr gewachsen. Ein Staatsdiener hatte eben erst die Ergebnisse der Krisenrunde zu Papier gebracht und das fertige Schriftstück mit dem Datum des 1. September versehen, als er den Vorgang endgültig ad acta legen konnte. Ein handschriftlicher Zusatz mit den lakonischen Worten "Der Turm ist eingestürzt" beendete die Rettungsmission.

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Einziger Trost: Der Schaden war nicht so groß wie erwartet. Denn statt der Länge nach umzukippen und dabei das gesamte Kirchenschiff einschließlich der südwärts angebauten Häuser unter sich zu begraben, ging der Turm gleichsam in die Knie, er knickte an seiner schwächsten Stelle im südöstlichen Bereich ein und faltete sich im Fallen wie eine Ziehharmonika. Dadurch reduzierte sich die Aufprallfläche, die Schneise der Verwüstung entsprach nicht der Turmhöhe. Unmittelbar nach dem Einsturz aufgenommene Fotos zeigen sehr deutlich die Bresche, die der umgekippte Turm in das Kirchenschiff geschlagen hatte. Und auch, wie relativ gut erhalten die Bereiche links und rechts der Einsturzstelle sind. Erst ein weiterer Luftangriff am 6. Oktober 1944 gab der Kirchenruine den Rest. Das ohnehin schwer beschädigte Dach ging in Flammen auf, nur die kahlen Seitenwände blieben erhalten.

In den Nachkriegsjahren entbrannte ein heftiger Streit um die Kirchenruine. Gewichtige Stimmen sprachen sich für den Erhalt der Ruine aus, zwischenzeitlich war ein Mahnmal im Gespräch. Doch die Kirchengemeinde konnte den Erlös gut gebrauchen für den Neubau des Gotteshauses in Schwachhausen. Nachdem der Denkmalschutz aufgehoben war und die Kirchengemeinde das Areal an den Warenhauskonzern Hertie verkauft hatte, ging es Anfang 1959 an den Abbruch. Im April 1959 gehörte das Kapitel Ansgarii-Kirche endgültig der Vergangenheit an.

Zur Sache

Bereits 1948/49 regte der Architekt Fritz Brandt den Wiederaufbau des Ansgarii-Turms an. Dieses Ziel hat auch der Verein Anschari – Vereinigung für das historische Stadtbild Bremens. Der Vorsitzende Nils Huschke attestiert dem Turm, ein "Symbol und Synonym der Stadt" gewesen zu sein. Sein Verlust markiere bis heute eine Fehlstelle in der Altstadt. Für seinen Mitstreiter Axel Spellenberg ist klar, dass der Turm zurück an seinen alten Standort muss – wo jetzt allerdings das "Bremer Carrée" mit seinen zwei Gebäudeteilen Ansgari- und Obern-Haus steht. Der Architekt sieht darin kein Problem, ein Stück des Gebäudes könne herausgebrochen werden. Der rekonstruierte Turm würde sich dann in das Carrée schmiegen. "Diese Enge hat etwas Schnoorhaftes", sagt der 79-Jährige. Eine Vorplanung hat Spellenberg erarbeitet, die Gesamtkosten für die Rekonstruktion des Ansgarii-Turms und den Umbau des Carrées veranschlagt er auf etwas mehr als 100 Millionen Euro. Seit drei Wochen ist der Verein unter anschari.de online, ab Ende September soll ein monatlicher Infostand auf dem Ansgarikirchhof für den Wiederaufbau werben.

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